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Ärzte-Odyssee: Christine Rapp hatte eine aufgebogene Büroklammer im Bauch

Ärzte-Odyssee

Christine Rapp hatte eine aufgebogene Büroklammer im Bauch

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    Jahrelang hat Christine Rapp mit einer aufgebogenen Büroklammer im Bauch gelebt.
    Jahrelang hat Christine Rapp mit einer aufgebogenen Büroklammer im Bauch gelebt. Foto: Andreas Reiner

    Wenn Christine Rapp beschreiben soll, wie es ihr gerade geht, braucht sie dazu nur fünf Worte. „Ich kann bald nicht mehr.“ Fünf Worte, die im Herbst 2011 doch nicht mehr sind als der Zwischenbericht eines neunjährigen gesundheitlichen und beruflichen Martyriums. Eine lange Leidenszeit, die eine damals gesunde, austrainierte Marathonläuferin, eine 49-jährige Mutter zweier Kinder und eine beruflich erfolgreiche Frau zu einer chronisch kranken und arbeitslosen Kämpferin in eigener Sache gemacht hat. Und bei all dem geht es um eine Büroklammer.

    Zwei weiße Linien

    Es ist der 15. September 2002, ein Sonntag, als Christine Rapp heftige Bauchschmerzen bekommt. Der ärztliche Notdienst vermutet eine Blinddarmentzündung und ruft den Rettungswagen, als die Patientin ohnmächtig wird. Die Sanitäter bringen sie in die Notaufnahme der Oberschwaben-Klinik in Wangen im Allgäu, wo ein Röntgenbild des Bauchraums gemacht wird. Auf der Aufnahme sind deutlich zwei weiße Linien zu erkennen – die Umrisse einer aufgebogenen Büroklammer.

    Darum wird man sich aber erst knapp vier Monate später kümmern. Vier qualvolle Monate für die Patientin Rapp. Der diensthabende Arzt erkennt jedenfalls nichts, der Radiologe schaut sich das Bild erst drei Tage später an, schlägt aber keinen Alarm.

    Christine Rapp bekommt an diesem 15. September zunächst einen Einlauf. Als sie sich danach noch schlechter fühlt, wird sie auf die Gynäkologie verlegt, der Auftakt einer medizinischen Odyssee mit etlichen Operationen, lebensbedrohlichen Zuständen und vielen weiteren Röntgenaufnahmen. Auf einer jeden ist der Fremdkörper deutlich zu sehen. In einem späteren Gutachten steht dazu, es sei „im klinischen Alltag nichts Ungewöhnliches, dass außen am Körper anliegende Fremdkörper auf Übersichtsaufnahmen mit abgebildet werden“. Übersetzt: Die Linien hätten auch ein Piercing sein können. „Danach hat mich überhaupt niemand gefragt“, sagt Rapp, die kein Piercing trägt.

    Gebärmutter, Eierstöcke und Blinddarm entfernt

    Dafür klagt die Oberschwäbin weiter über heftige Schmerzen. Erst als Rapp sich in ihrer Verzweiflung nach Ravensburg verlegen lassen will, geht alles ganz schnell. Notoperation, eine Woche nach ihrer Einlieferung. Sie hat fünfzehn Minuten Zeit, sich zu entscheiden. In ihrer Not unterschreibt sie die Einwilligung. „Um was es genau geht, hat mir aber niemand erklärt.“ Als Christine Rapp aufwacht, fehlen ihr die Gebärmutter und beide Eierstöcke, der Blinddarm ist ihr auch gleich entfernt worden. Ende September werden neue Röntgenbilder gemacht. Wieder ist der Fremdkörper deutlich zu sehen, wieder interessiert sich keiner dafür. Jahre später wird ein vom Landgericht Ravensburg beauftragter Gutachter zu dem Schluss kommen: „Nach dem Facharztstandard in der Radiologie hätte spätestens am 18.9.2002 der Fremdkörper durch den Radiologen erkannt werden müssen.“

    Passiert ist freilich nichts. Christine Rapp wird am 11. Oktober 2002 aus dem Krankenhaus entlassen. Sie wiegt nur noch 47 Kilo, die Wunde am Bauch ist noch nicht geschlossen. Die Verwaltungsleiterin eines Museums würde zwar gerne wieder arbeiten, ist aber zu schwach. Damit beginnt die nächste Leidenszeit: Laut Rapp schenkt der damalige Museumsleiter ihren Schilderungen wenig Glauben. Sein Motto: Stellen Sie sich nicht so an.

    Die Ärzte raten ihr, nicht zu schnell wieder anzufangen, und schreiben sie krank. Zudem sind die Schmerzen allenfalls gedämpft, sie leidet unter bleierner Müdigkeit, Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen und hormonellen Problemen. Ihr „zerschnittener Bauch“ belastet zudem die Psyche. Im Wangener Krankenhaus besteht die psychologische Betreuung darin, dass die Ärzte ihr erklären, eine Frau um die 50 brauche ohnehin keine Gebärmutter mehr.

    Die Klammer steckt in der Darmwand

    All das ist damals kein Trost für die Mutter zweier Kinder, die sich „über die Zeit schleppt“, ehe sie am 19. Januar 2003 während der ambulanten Reha wieder bohrende Schmerzen bekommt. Der Notarzt schickt sie abermals ins Krankenhaus, kurz darauf wird der Bauch, zum mittlerweile fünften Mal, geröntgt. Und jetzt, vier Monate nach dem ersten Bild, fällt im Wangener Klinikum der „metallische Gegenstand“ auf. Eine Computertomografie bestätigt, dass die Büroklammer mit ihren aufgebogenen Spitzen in der Darmwand steckt. Am 23. Januar 2003 wird der Fremdkörper schließlich entfernt.

    Ende gut, doch noch alles gut? Nicht für Christine Rapp. Ihr geschundener Körper erholt sich nur langsam, die Psyche braucht Zeit. An Arbeit ist nicht zu denken, was den Museumsleiter zusehends erzürnt habe, sagt die 58-Jährige. Mitte April 2003 kehrt sie nach siebeneinhalb Monaten Krankenstand auf ihre Stelle zurück, ist aber alles andere als gesund. Immer wieder muss die Frau, die 2002 noch bis zu 100 Kilometer pro Woche gejoggt ist, wegen Schwächeanfällen in die Klinik. Im Juli 2008 gibt sie auf und einigt sich mit dem Museum auf einen Auflösungsvertrag.

    Sie klagt gegen die Ärzte aus Wangen

    Und warum die ganzen gesundheitlichen Probleme, die seelischen Nöte, die Verzweiflung? Christine Rapp beschließt fast sieben Jahre nach Entfernung der Klammer, das Ganze nicht auf sich beruhen zu lassen. Der Fall soll vor Gericht aufgearbeitet werden.

    Nachdem außergerichtliche Vergleichsversuche lange Jahre zu keinem Ergebnis geführt haben, klagt sie seit November 2009 auf Schmerzensgeld und Kostenerstattung gegen die Wangener Klinik, gegen den Arzt, der das erste Röntgenbild erst drei Tage nach ihrer Einlieferung angeschaut und nicht reagiert hat, und gegen den Chefarzt der Wangener Gynäkologie.

    40000 Euro in Gutachten investiert

    Das Verfahren ist ein Tummelplatz von Gutachtern. 40000 Euro hat Christine Rapp bereits investiert. Für den von ihr beauftragten Sachverständigen ist die Lage eindeutig. Die Behandlung in Wangen entsprach nicht dem ärztlichen Standard, der gravierende Eingriff eine Woche nach Einlieferung mit dem Verlust von Gebärmutter, Eierstöcken und Blinddarm wäre nach Ansicht des Professors für Chirurgie „sehr wahrscheinlich vermeidbar gewesen“, hätte man gleich die richtige Diagnose gestellt.

    Klingt gut für Christine Rapp. Doch die Wangener Ärzte wehren sich, das Landgericht beauftragt vier weitere Gutachter. Ein Gynäkologe, ein Radiologe, ein Chirurg und ein Gastroenterologe. In einem Schreiben der Anwälte der Klinik an das Landgericht Ravensburg räumen die Beklagten im März 2010 zwar ein, die Klammer übersehen zu haben und bieten 2000 Euro Schadenersatz an. Sie bestreiten aber, dass dies einen Einfluss auf die Behandlung gehabt hätte. Die Argumente der Klinik sind auch heute laut ihrem Sprecher Winfried Leiprecht „unverändert sachlich richtig“. Mehr könne er nicht sagen.

    In der Klinik soll laut Rapp zudem spekuliert worden sein, ob sich die Gebärmutter der damals frisch geschiedenen Frau nicht auch durch das entzündet haben könnte, was man im Amtsdeutsch HwG (Häufig wechselnde Geschlechtspartner) nennt. „Es gab Ärzte, die haben mich am Krankenbett nach ,unhygienischem Sex‘ gefragt.“

    Vielleicht beim Trinken mitgeschluckt

    Wie die Klammer in ihren Bauch gekommen ist, weiß Christine Rapp bis heute nicht. Der Internist in Wangen, der dann doch noch die richtige Diagnose gestellt hatte, erklärte ihr, es könne durchaus sein, dass die Klammer durch den Magen in den Darm gekommen sei und sich auf dem Weg dorthin aufgebogen habe. Das Ding hätte etwa in einer Getränkedose gewesen sein können. Es sei denkbar, dass Christine Rapp die Klammer beim Trinken unbemerkt verschluckt habe. Darüber streiten sich jetzt die Gutachter.

    Der aktuelle Stand ist: Das Übersehen der Klammer streiten die Beklagten zwar nicht ab. Wohl aber, dass dies, abgesehen von der letzten Operation im Januar 2003, irgendetwas geändert hätte. Tenor: Die Büroklammer hatte mit den Entzündungsprozessen in Eierstock und Gebärmutter nichts zu tun gehabt.

    Niemand habe sich entschuldigt

    Das zieht der Betriebswirtin vollends den Boden unter den Füßen weg. Und auch ihr Gutachter sagt: Bei korrekter Diagnose und sofortiger Entfernung der Klammer „wäre die Unterbauchperitonitis sehr wahrscheinlich vermeidbar gewesen“. Aber darüber wird auch nach neun Jahren immer noch gestritten. Alles, was Christine Rapp bis jetzt bleibt, das sind Narben, eine 30-prozentige Schwerbehinderung und die seelischen Wunden. „Auch als klar war, dass da was schiefgelaufen ist, hat sich nie jemand entschuldigt“, sagt sie. Und um zu verstehen, wie mies sich das anfühlt, brauche man kein Röntgenbild.

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