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Paralympics: Dabei sein ist nicht mehr alles

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Paralympics: Dabei sein ist nicht mehr alles

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    Paralympics: Dabei sein ist  nicht mehr alles
    Paralympics: Dabei sein ist nicht mehr alles

    Zum Wesen einer sozialen Gesellschaft gehört es, dass sie Hilfsbedürftige und Randständige in ihre Mitte nimmt. Wenn ihr das auch nicht immer zur Zufriedenheit der Betroffenen gelingt, so sollte wenigstens die Absicht erkennbar sein. Finanzielle Unterstützung ist dabei nur ein Mittel von vielen. Es gibt andere: die Menschen anzunehmen. Sie nicht aus falsch verstandener Fürsorge zu entmündigen, sondern von gleich zu gleich zu behandeln, ihnen dort Brücken und Bühnen zu bauen, wo sie nicht weiterkommen.

    Etwas Derartiges stand bis gestern in London, wo in den vergangenen eineinhalb Wochen die Paralympischen Spiele der Behinderten stattgefunden haben.

    Mit Männern und Frauen ohne Unterschenkel, armamputiert, querschnittsgelähmt. In die Mitte genommen von regelmäßig 80000 Zuschauern, die nicht aus Mitleid gekommen waren, sondern Sport sehen wollten und dafür Eintritt bezahlt haben. Der Privatsender Channel 4 hat nach einem Bieterstreit mit der BBC Millionen für die Übertragungsrechte bezahlt und 150 Stunden Paralympics übertragen. Das deutsche öffentlich-rechtliche Fernsehen hatte abends über eine Million Zuschauer. Isoliert betrachtet ist das wenig, für den Randsport einer sogenannten Randgruppe ist es viel.

    Bitterer sportlicher Ernst

    Spätestens in London haben die Spiele der Behinderten einen eigenen Wert bekommen. Waren sie in ihren Anfängen lediglich ein olympisches Anhängsel, dem sich Medien und Öffentlichkeit eher pflichtschuldig zuwandten, so haben sie sich nun endgültig emanzipiert. Thanks to London! Gold an die Gastgeber. Öffentliche Geringschätzung der Behinderten, wie sie nach den Spielen von 1996 in Atlanta stattfand, als die Amerikaner die Sportstätten abbauen ließen und die Paralympics in Ruinen stattfanden, wagt heute keiner mehr. Die Engländer haben den behinderten Spitzensportlern, und als solche sind viele der Athleten inzwischen zu sehen, eine wunderbare Plattform geboten, der Welt zu zeigen, wie kraftvoll Menschen mitunter Schicksalsschlägen begegnen. Keiner hat das schöner in Worte gefasst als der ehemalige Formel-1-Pilot Alessandro Zanardi, der bei einem Rennunfall beide Beine verlor. „Wenn ich meine Beine noch hätte, wäre ich nie nach London gekommen“, sagte Zanardi, nachdem er als Handbiker Gold gewonnen hatte. Die Schicksale der Athleten liefern den emotionalen Grundton der Paralympics, das Moll des Lebens. Dennoch sind sie heiter; darüber hinaus aber auch ernst. Bitterer sportlicher Ernst. Dass sie inzwischen ihre Unschuld verloren haben, ist der Preis der Emanzipation.

    Paralympische Spiele sind kein Treffen behinderter Amateure mehr, die sich fromm in Niederlagen fügen. Dabei sein war früher alles. Was heute zählt sind Gold, Silber, Bronze – mögen die Ziele auch nur über den Weg des Dopings zu erreichen sein. Und wer auf Anabolika verzichtet, lässt an seinen Federbeinen herumschrauben.

    Technikdoping heißt die paralympische Zukunft. Wie schwierig es ist, sie zu gestalten, zeigt allein das Ringen um vergleichbare Wettkampfbedingungen. Welche Behinderung ist mit welcher zu vergleichen und wie viel Technik darf in den Sport, ohne dass die Spiele in einer Materialschlacht enden?

    Wie erfolgreich London tatsächlich war, wird sich erst im richtigen Leben zeigen. Fallen weitere Barrieren für Behinderte? Wächst das Nebeneinander von Menschen mit und ohne Behinderung? Geht es endlich in alle Köpfe, dass sich Leistung und Behinderung nicht ausschließen? Das wären die eigentlichen Ziele paralympischer Spiele. Der Sport bietet die besten Chancen, sie zu erreichen.

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