Die Forderung der IG Metall nach bis zu 6,5 Prozent mehr Lohn mag Unternehmern als unmäßig erscheinen, steht Deutschland nach zwei hervorragenden Jahren doch vor einer ungewissen wirtschaftlichen Zukunft. Ruft Gewerkschafts-Chef Berthold Huber das Ende der von ihm lange praktizierten Bescheidenheit aus? Was wie übermäßiger Lohnhunger wirkt, erweist sich bei eingehender Betrachtung als Fortsetzung der maßvollen Tarifpolitik in der Metall- und Elektroindustrie. Denn 6,5 Prozent sind nicht 6,5 Prozent. Am Ende steht wohl eine Zahl, die es der IG-Metall-Spitze erlaubt, sie als rund vier Prozent zu verkaufen, während die Arbeitgeber nur eine Drei vor dem Komma entdecken können. Mit großer Wahrscheinlichkeit fließt in dieses nach (wie immer) zähem Ringen und einigen Warnstreiks erstrittene Ergebnis auch eine Einmalzahlung ein.
Tarifpolitik ist eine komplizierte Materie, schließlich geht es um viel Geld. IG Metall und der Arbeitgeberverband Gesamtmetall müssen für die rund 3,6 Millionen Beschäftigten des Wirtschaftszweigs eine Lohnzahl ermitteln, mit der die meisten Betriebe einer vielgestaltigen Branche leben können.
Auch wenn die Tarifverträge der Metallindustrie längst flexibel geformt sind und entlastende Schlupflöcher für schlechter verdienende Firmen bereithalten, muss mit dem Abschluss nahezu die Quadratur des Kreises vollzogen werden. Nur wenn Beschäftigte von Konzernen mit goldgeränderten Bilanzen wie Siemens oder BMW genauso mit dem Abschluss zufrieden sind wie ein unter hohem Druck der Autoindustrie stehender Zulieferer, entfaltet der Tarifvertrag seine friedenstiftende Wirkung.
Dieses Kunststück ist IG Metall und Gesamtmetall in den vergangenen Jahren gelungen, auch wenn die Beschäftigten aus heutiger Perspektive zuletzt etwas zu kurz gekommen sind. Aber wer rechnete schon mit den märchenhaften Wachstumsraten in den Jahren 2010 und 2011? Dass Deutschland zur blühenden Landschaft eines Schulden-Europas heranreift, sagten selbst die optimistischsten Volkswirte nicht voraus. Und so blicken die Experten auch auf dieses Jahr letztlich ratlos. Weder Huber noch Gesamtmetall-Chef Martin Kannegiesser weiß, ob die Wirtschaft weiter einbricht oder sich im Lauf des Jahres wieder fängt. Deshalb müssen sie auf Sicht fahren und eine Einigung mit Augenmaß erzielen, welche die Beschäftigten am traumhaften Wachstum der Vergangenheit beteiligt und zugleich den Unwägbarkeiten der Zukunft Rechnung trägt. Mit einer Drei vor dem Komma würden die Kontrahenten ihrer Verantwortung gegenüber Mitarbeitern und Betrieben gerecht.
Dabei wird Tarifpolitik zu einer immer größeren intellektuellen und strategischen Herausforderung. Wirtschaftlich betrachtet nimmt die Volatilität zu: Ließen sich früher Konjunkturzyklen zumindest annähernd prognostizieren, führen heute externe Schocks wie die Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers und die Schuldenkrise in Europa zu plötzlichen Verwerfungen. Andererseits kann es, wie das Beispiel Deutschland zeigt, auch ebenso unerwartet raketenartig nach oben gehen. Wir leben in einer Epoche gesteigerter Nervosität, einer Ära zackiger Finanzkurven und zittriger Finger. Die Tarifpartner der Metallindustrie reagieren mit großer Reife auf das nervenaufreibende Spiel.
In Zukunft ist noch mehr Fein- und Nachsteuerung notwendig. Das trifft beide Seiten: Arbeitgeber müssen zu einem Nachschlag bereit sein, wenn die Wirtschaft besser als gedacht gedeiht. Umgekehrt kommen Gewerkschaften nicht umhin, im Nachhinein einen Abschlag zu akzeptieren, wenn Deutschland in eine Rezession abgleitet.