Startseite
Icon Pfeil nach unten
Meinung
Icon Pfeil nach unten

Leitartikel: Die Türkei darf nicht abdriften

Leitartikel

Die Türkei darf nicht abdriften

    • |
    Winfried Züfle
    Winfried Züfle Foto: Wagner

    Doch so stellt sich die Lage längst nicht mehr dar. Einerseits ist die Mehrheit der Türken von der Ablehnung, die ihnen aus Europa entgegenschlug, und dem schleppenden Verlauf der Beitrittsgespräche enttäuscht. Andererseits hat der anhaltende wirtschaftliche Erfolg die Türken selbstbewusst gemacht. Überdies haben sich die Politiker in Ankara in den vergangenen Jahren auf die starke geopolitische Position des Landes am Übergang vom Okzident zum Orient zurückbesonnen und Alternativen zur europäischen Option entwickelt.

    Jetzt hat sich die EU, deren Staats- und Regierungschefs heute zu einem Gipfel in Brüssel zusammenkommen, dazu bequemt, die ins Stocken geratenen Beitrittsgespräche wiederaufzunehmen. Die Außenminister der Gemeinschaft eröffneten dieser Tage ein politisch wenig brisantes Kapitel (Regionalpolitik) für neue Verhandlungen. Es ist kein Wunder, dass Ankara betont zurückhaltend auf diesen „Durchbruch“ reagiert hat. Wenn die Gespräche überhaupt einen Sinn haben sollen, dann muss in absehbarer Zeit mit einer Debatte über die Kernfragen begonnen werden.

    Dies gilt unabhängig von der Tatsache, dass die Aufnahme der Türkei in die EU heute nicht durchsetzbar wäre. 28 nationale Parlamente müssten zustimmen – eine Illusion. Aus Verärgerung über die Beitrittsgespräche mit Ankara haben bereits die Franzosen und die Niederländer 2005 die Europäische Verfassung abgelehnt.

    Überdies würde das Land am Bosporus die Gewichte innerhalb der EU dramatisch verschieben. Die Republik Türkei mit ihren 76 Millionen Einwohnern erhielte in der EU auf Anhieb ein ebenso großes Gewicht wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien. Und die Mittel zur Strukturförderung würden, bliebe es bei den bisherigen Maßstäben, zu einem großen Teil nach Anatolien abfließen. Daher müsste sich die EU vor einem Beitritt der

    Doch wer weiß heute, wie sich die politische Lage in zehn, 20 oder 30 Jahren darstellen wird? Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass Europa eines Tages ein wirtschaftlich starkes Land mit einer jungen Bevölkerung gerne in den eigenen Staatenbund aufnehmen würde. Zumal, wenn dieses Land eine Schnittstelle zu einem dann möglicherweise befriedeten Nahen Osten darstellt. Möglich wäre auch, dass bis dahin im gegenseitigen Einvernehmen andere Modelle der Zusammenarbeit entwickelt werden, für die es nur von Vorteil sein kann, wenn die Rechtssysteme und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen aufeinander abgestimmt sind.

    Beitrittsverhandlungen sollten nicht um ihrer selbst willen geführt werden. Aber Gespräche können auch eine zielführende Eigendynamik entwickeln. Eine Türkei, die mit der EU verhandelt, wird kaum in Richtung Islamismus abdriften, auch wenn die Regierung Erdogan das Kopftuchverbot Stück für Stück aufweicht. Deswegen ist das Knüpfen am Gesprächsfaden zwischen Europa und der Türkei zu begrüßen. Für Ängste besteht kein Anlass, weder auf der einen noch auf der anderen Seite.

    Die Geschichte der EU-Erweiterungen zeigt im Übrigen, dass Länder nach ihrem Beitritt oft einen großen Sprung nach vorne gemacht haben – und dass die Gemeinschaft ihrerseits davon profitiert hat. Im Fall Türkei muss indes allen klar sein, dass dieses Projekt langfristig angelegt ist.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden