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Kommentar: Ein Plädoyer für den Gemeinsinn

Kommentar

Ein Plädoyer für den Gemeinsinn

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    Ein Plädoyer für den Gemeinsinn
    Ein Plädoyer für den Gemeinsinn

    Für jemanden wie ihn, der seine erste freie Wahl im reifen Alter von 50 Jahren erlebt hat, ist auch die Demokratie, in der er heute lebt, ein ständiger Auftrag. Sie muss gelehrt und gestaltet werden, aber eben auch glaubhaft repräsentiert. Dass er das kann, hat bereits sein erster kurzer Auftritt als Bundespräsident gezeigt: nachdenklich und bisweilen melancholisch im Ton, aber durchaus fordernd in der Sache. Gauck will, dass die Deutschen ihre Verantwortung nicht nur an ihre gewählten Vertreter delegieren, sondern dass sie sich auch selbst stärker engagieren. Die etwas abstrakte Phrase von der Bürgergesellschaft, die er dazu gebraucht, ist im Kern nichts anderes als ein Plädoyer für einen neuen Gemeinsinn. Die Frage ist nur, ob dieses

    Bisher war Gauck ein sympathischer, kluger Kandidat mit einer beeindruckenden Biografie und einer entsprechend großen Faszination auf andere. Aber was für ein Präsident wird er sein? Versteht er sich als kritisches Gegengewicht zur aktiven Politik wie Horst Köhler, der die Kanzlerin auch mal zum tatkräftigeren Regieren ermahnte? Oder sieht er sich vor allem als erster Repräsentant seines Landes, honorig und altersmilde wie der bekennende Versöhner Johannes Rau? In seiner kurzen Antrittsrede hat Gauck solche Fragen noch elegant umschifft. Staatsmännische Zurückhaltung aber war seine Sache nie.

    Der neue Präsident ist ein Autonomer im besten Sinne. Wie Helmut Kohl nach dem Fall der Mauer gegen alle ökonomische Vernunft die DDR-Mark eins zu eins in D-Mark tauschen ließ, um in der großen Stunde der Einheit nicht zaghaft und kleinlich zu erscheinen – dieses etwas verwegene Verständnis von Verantwortung imponiert ihm. Deshalb wird er sich einmischen, wo er es für nötig hält, nicht allzu präsidial in seiner Amtsführung, sondern eher pädagogisch: Gauck will die Menschen, so pastoral das klingt, zu Freiheit und Verantwortlichkeit erziehen. Oder es zumindest versucht haben.

    Als Bundespräsident allerdings ist er kein Mann der Operative, er hat nur ein Werkzeug: das Wort. Es so einzusetzen, dass es überall verstanden wird, dass es relevant ist, sich nicht in einer Inflation von Reden zu den üblichen Anlässen erschöpft, wird ihm noch viel Selbstdisziplin abverlangen. Der Bürger Gauck konnte sich an seiner eigenen Sprachmacht berauschen. Der Bundespräsident Gauck dagegen wird nicht nur etwas uneitler und zurückgenommener agieren müssen, sondern seine Worte auch sorgsamer wägen und sparsamer dosieren. Jeder noch so leicht dahingesagte Satz wird jetzt registriert, seziert und auf der berühmten Goldwaage gewogen. Für jemanden, der bisher so frei und unabhängig agiert hat wie er, ist das eine enorme Herausforderung.

    Mit seinem großen Thema, der Freiheit, trifft Gauck mitten in einer Renaissance des dominierenderen, vieles wie selbstverständlich regelnden Staates zwar nicht den Nerv der Zeit. Umso wohltuender aber ist der Kontrast auch: Hier die pragmatische Tagespolitik, die Daten auf Vorrat speichern, Chefposten für Frauen quotieren und flächendeckende Mindestlöhne einführen will – dort ein Präsident, der an die Kraft des Einzelnen appelliert, an seine Kreativität und seine Verantwortung für das gemeinsame Ganze. Der in seinem Freiheitsglauben oft ein wenig amerikanisch-naiv wirkt, aber authentisch. Wie Gauck über die große Krise denkt, über die bröckelnde Solidarität in Europa oder die demografischen Verwerfungen in Deutschland – das wird sich dahinter erst allmählich herausschälen.

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