Ein Kartenhaus ist bekanntlich ein recht instabiles Gebilde. Oft reicht es, eine Karte herauszuziehen, und es stürzt in sich zusammen. Beim Neujahrsempfang von Stadt und Landkreis in der Aula der Beruflichen Schulen verglich Landrat Thomas Eichinger unsere Gesellschaft mit einem Kartenhaus. Welche Karte kann es in seinen Grundfesten erschüttern? Überalterung? Klimawandel? Kriege? Bei vielen Menschen wächst die Angst, so Eichingers Wahrnehmung. Auch die Angst vor Verlust. Eine Angst, die uns daran hindere, Dinge zu verändern. Dass dies aber notwendig sei, darüber referierte Professor Dr. Dr. Franz Josef Radermacher.
Der 66-Jährige ist Professor für Informatik an der Universität Ulm und Leiter des Forschungsinstituts für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung. Bekannt geworden ist er unter anderem durch sein Eintreten für eine weltweite ökosoziale Marktwirtschaft und durch sein Engagement in der Global Marshall Plan Initiative, die sich seit 2003 für eine gerechtere Globalisierung, für eine „Welt in Balance“, einsetzt. Sein Vortrag in Landsberg hatte die Frage „Globalisierung, Nachhaltigkeit, Zukunft – sind wir noch zu retten?“ zum Thema. Die Antwort lautete lange Zeit eher „Nein“. Erst am Ende seiner Ausführungen zeigte sich Franz Josef Radermacher optimistisch, dass „wir die Kurve kriegen“. Doch zurück zum Anfang.
Das wichtigste Thema für das Mitglied des Club of Rome ist die Bevölkerungsexplosion. Radermacher erwartet zehn Milliarden Menschen bis zum Jahr 2050 und zwölf Milliarden für das Ende des Jahrhunderts. Zuwachs erhalte in erster Linie Afrika, knapp vier Milliarden würden dort im Jahr 2100 leben. Millionen von ihnen würden sich auf den Weg nach Europa machen, auf der Flucht vor dem Klimawandel, sozialer Ungerechtigkeit und finanzieller Ungleichheit.
„Wir müssen die Probleme vor Ort lösen“, ist Radermacher überzeugt. Er fordert eine „Wohlstandsexplosion“ in Nordafrika. Die könne unter anderem mit erneuerbaren Energien in der Sahara und der europäischen Mitfinanzierung gerechter Sozialsysteme gelingen. Wachstum, ohne das Klima zu gefährden und mit sozialer Balance, sei der Schlüssel – weltweit.
Dazu brauche es eine soziale Marktwirtschaft, die ihrem Namen gerecht wird, und einen fairen Handel. Aber: „Wir sind nur gut im Reden, aber nie gut im Tun.“ Am Ende würden die Westeuropäer einen hohen Preis dafür zahlen, dass sie nicht dazu bereit sind, das Nötige zu tun. Für Radermacher spielt künftig auch die Verteilung der Einkommen eine elementare Rolle. Dort wo sie nicht gerecht verteilt sind, sei der Wohlstand eines ganzen Landes und damit auch die Demokratie gefährdet.
Unter den reichen Industrienationen sei diese soziale Balance in Großbritannien und den USA am schlechtesten. Die Folge seien politischer und gesellschaftlicher Unmut, der im Brexit und der Wahl Donald Trumps gipfelte. Auch in Deutschland gelte es, diese Balance zu halten. Sollte aber die Erbschaftsteuer weiterhin tabuisiert werden, drohe der Verlust dieser Balance.
Das Problem der knappen Ressourcen erachtet Franz Josef Radermacher als lösbar. Er setzt dabei auf die Innovationsfähigkeit des Menschen und die richtige Technologie. Mut mache ihm dabei die Vergangenheit. So sei die industrielle Revolution die Antwort auf die Knappheit von Holz gewesen. Auch heutzutage brauche es ein neues Energiesystem. Und so müsse die Wohlstands-Explosion in Nordafrika gelingen, ohne Ressourcen aufzufressen. Doch um alle Probleme zu lösen, müssten die Menschen der westlichen Welt ihre Komfortzone verlassen. Weitermachen wie bisher? Das sei nicht möglich.
OB Mathias Neuner zeigte sich optimistisch, dass die künftigen Herausforderungen zu bewältigen sind. Auch er blickte in die Vergangenheit zurück und erinnerte an die Ängste vor einem Waldsterben. „Das ist heute kein Thema mehr.“ Musikalisch begleiteten Monika Drasch und Johann Zeller den Neujahrsempfang. Die teils historischen Texte wurden leicht abgewandelt, und so fand sich darin der Streit um den Neubau eines Landratsamtes im Landsberger Osten ebenso wie Thesen aus dem Vortrag von Professor Radermacher.