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Gesellschaft: Der rettende Strohhalm

Gesellschaft

Der rettende Strohhalm

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    Manchmal, sagt Dirk Schübl, trage er noch immer die Kämpfe mit sich aus. Aber es sei nicht mehr so schlimm wie früher. In der Strohhalm-WG in Issing hat er gelernt, sich abzulenken, seine Zeit sinnvoll zu nutzen. Neuerdings fertigt Schübl aufwendige Tuft-Teppiche an. Vergangene Woche hat er sie in Dießen ausgestellt.
    Manchmal, sagt Dirk Schübl, trage er noch immer die Kämpfe mit sich aus. Aber es sei nicht mehr so schlimm wie früher. In der Strohhalm-WG in Issing hat er gelernt, sich abzulenken, seine Zeit sinnvoll zu nutzen. Neuerdings fertigt Schübl aufwendige Tuft-Teppiche an. Vergangene Woche hat er sie in Dießen ausgestellt.

    In der Einfahrt, gleich neben dem Gartentor, steht eine Skulptur. Sie ist aus allerhand Teilen zusammengesetzt, die Arme waren einmal ein rostiges Ofenrohr, unter dem Brustkorb aus Gartenschläuchen züngeln aufgemalte Flammen, der Mund, traurig und fröhlich zugleich, ist mit Nägeln eingehämmert. Dirk Schübl hat die Skulptur vor zwei Jahren angefertigt, es ist ein Selbstbildnis. Damals, sagt er und betrachtet sie nachdenklich, „war das mein momentanes Ich“.

    Die Statue sagt viel darüber aus, wie Schübl sich selbst vor zwei Jahren gesehen hat. Der 43-Jährige lebt in der Strohhalm-WG in Issing, einer betreuten Wohngemeinschaft für Menschen, die lange Jahre süchtig nach Drogen, Alkohol oder beidem waren. Das große Haus mit dem ausladenden Garten ist eine ungewöhnliche Einrichtung. Die Wände sind bunt, die Einrichtung zusammengewürfelt, überall findet sich Kunst, in einem der Zimmer trocknet Dirk Schübl Kräuter für seinen Tee.

    Albertus Hogeweg hat die WG vor 19 Jahren gegründet, er kümmert sich gemeinsam mit seiner Frau und drei weiteren Mitarbeitern um die Bewohner. Im Moment lebt Dirk Schübl allerdings als Einziger in dem großen Haus, der letzte Mitbewohner ist im Frühjahr ausgezogen. Die WG kämpft seit ihrer Gründung mit „chronischer Unterbelegung“, erzählt Leiter Hogeweg. Das liegt auch an den Hausregeln, sagt er. Die sind hier relativ streng, strenger als in manch anderen Einrichtungen. Alkohol und Drogen sind verboten, die Bewohner müssen sich um das Haus kümmern, den Garten, die Werkstatt, sie haben viele Aufgaben.

    Das alles ist Teil von Hogewegs Therapiemethode. Der 62-Jährige war selbst drogenabhängig, mittlerweile ist er seit über 30 Jahren clean. „Ich weiß, dass man etwas tun muss, wenn man da rauskommen will“, sagt er. Wer bequem sei oder faul, der biete der Sucht mehr Gelegenheit, wieder ins Leben zurückzukehren. Für Dirk Schübl war es anfangs schwer, sich an die Regeln des Hauses zu gewöhnen. Er sagt: „Ich hatte meine Widerstände.“ Mittlerweile findet er den Alltag in der Strohhalm-WG hilfreich, die körperliche Arbeit, die Nähe zur Natur, das entschleunigte Leben auf dem Land.

    Schübl ist in München aufgewachsen, einer Großstadt, die sich schnell bewegt, die wenig Raum hat für Menschen, die ihren Platz in der Gesellschaft noch nicht gefunden haben. Er tut sich schwer in seiner Jugend, hat keine Ahnung, was er nach der Hauptschule machen soll. Schübl weiß, er hat künstlerisches Talent, er kocht auch gerne. Aber die Gastronomie ist keine Option, das will der Vater nicht. Er geht stattdessen auf die Wirtschaftsschule. Fast 30 Jahre später, im Garten der Strohhalm-WG, wird er sagen, dass dort irgendwie alles angefangen hat.

    Einige Mitschüler nehmen Drogen. Er beginnt, sich regelmäßig Heroin zu spritzen. Irgendwann kommt auch noch Alkohol dazu. Schübl ist noch immer auf der Suche, weiß nicht, was seine Rolle in der Gesellschaft ist. „Nüchtern“, sagt er, „war das unerträglich.“ Aber irgendwann wirken die Drogen kaum noch, die Betäubung setzt nicht mehr ein. „Da hat mich plötzlich der Lebensmut völlig verlassen“, erzählt Schübl heute. Mehrmals versucht er, sich eine Überdosis zu verpassen. Er lebt zu diesem Zeitpunkt in Aachen. An einem Tag im Jahr 1999 schließt er alle Fenster seiner Wohnung, dreht das Gas auf und setzt sich einen Schuss.

    Er wacht erst wieder im Krankenhaus auf, tagelang lag er im Koma. Aus Erzählungen erfährt er, was in der Zwischenzeit passiert ist. Dass in seiner Wohnung ein Funke übergesprungen ist, dass er durch die Explosion mitsamt der Außenmauer seiner Wohnung auf die Straße geschleudert wurde.

    Schübls Haut ist nach dem Unfall zu 70 Prozent verbrannt, er hat starke Schmerzen. Und trotzdem hat sich bei ihm etwas verändert. „Ich hatte plötzlich einen totalen Lebenswillen“, sagt er. Er konnte nicht stillliegen im Krankenhaus, wollte sich bewegen, etwas tun. Nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen wird, muss Schübl vor Gericht. Er wird verurteilt und eingewiesen, macht eine Therapie. Immer wenn seine Entlassung näher rückt, wird er wieder rückfällig.

    Irgendwann stößt er im Internet auf die Strohhalm-WG. Er sucht den Kontakt, er weiß: Das könnte eine Chance für ihn sein. Am Anfang ist es schwer für ihn. „Ich war immer wieder kurz davor, vor mir selbst davonzulaufen.“ Ein halbes Jahr nach seiner Ankunft wird er rückfällig. Er geht in den Supermarkt und kauft eine Flasche Schnaps. Am nächsten Tag fühlt er sich schlecht. Er lebt nun in einer Gemeinschaft, er sieht, wie weh er anderen Menschen mit seinen Taten tut. Es ist das letzte Mal, dass die Sucht die Übermacht gewonnen hat.

    Dirk Schübl hat ein Bild von sich gemalt, wieder ein Selbstbildnis. Es zeigt einen Mann, der seinen Körper aus Puzzleteilen zusammensetzt. Er betrachtet jedes Teilchen, bevor er es wieder an seinen Platz legt. „So beschäftige ich mich auch mit jedem Teil von mir“, sagt Schübl. „Ich schaue, will ich daran etwas ändern oder kann das so bleiben.“ Mittlerweile laufe er nicht mehr vor sich selbst davon, er hat sich verändert in den vier Jahren.

    Seit diesem Frühjahr hat Schübl eine neue Leidenschaft: Der 43-Jährige hat die Tuft-Teppich-Werkstatt von Barbara Bode übernommen. In der Werkstatt der Strohhalm-WG fertigt er nun die leuchtend bunten Teppiche, vor einer Woche hat er sie im Taubenturm in Dießen gezeigt. „Ein tolles Gefühl“, sagt er. Die Ausstellung war Teil des Strohhaus-Projekts. Albertus Hogeweg, der Leiter der Wohngemeinschaft, will in der Zukunft Kunst und WG noch viel häufiger verbinden. Hogeweg möchte die WG öffnen, für Künstler, alleinerziehende Mütter oder auch Flüchtlinge mit Aufenthaltsstatus. Für Menschen, die zwar nicht unter einer Sucht oder einer offensichtlichen Krankheit leiden, die aber „irgendwie durch die Raster gefallen sind“, wie Hogeweg sagt.

    Im Moment steht er noch am Anfang mit seinen Plänen, aber er hat bereits festgestellt, dass es kein leichter Weg sein wird, dass alles seine Zeit braucht. Schon vor einigen Wochen hat er signalisiert, dass die WG Flüchtlinge mit Bleiberecht aufnehmen möchte. Bisher, sagt er, habe es aber immer geheißen, es gebe keine geeigneten Kandidaten. „Das kann ich bei der Not und Vielzahl der Flüchtlinge nur schwer glauben“, sagt Hogeweg.

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