Wenn Ostern ist, liegt ein Osterspaziergang nahe. Hinaus in die erwachende Natur zieht es den Menschen. Oder aber er richtet zum Osterfest den Blick in die Ewigkeit, verheißt dieses Fest den Christen doch die Auferstehung zum ewigen Leben. Und was liegt da näher, als zu Ostern mal einen Blick in den Himmel zu werfen – gerade ein wenig so wie der Brandner Kasper: Der trotzte ja erst dem Boandlkramer noch zehn zusätzliche Lebensjahre beim Kartenspiel ab, wurde dann aber doch neugierig auf die Ewigkeit. Und so sei hier von einem Spaziergang in den Dießener Himmel, wie das Kuppelfresko in der ehemaligen Stiftskirche der Augustiner-Chorherren in Dießen genannt wird, berichtet.
Ein großes Gerüst mitten im Kirchenraum wird noch bis Ende April den Blick durch Dießens bedeutendste Sehenswürdigkeit versperren. Es sieht nicht schön aus, aber es bietet die seltene Gelegenheit, über neun Etagen direkt in den Dießener Himmel zu gelangen – 23 Meter über der Fußbodenhöhe. Möglich ist dies freilich nur in Begleitung von Kirchenpfleger Peter Keck, der zuvor die Alarmanlage im Chorbereich außer Betrieb gesetzt hat. Am Mittwoch vor Ostern arrangierte er diesen besonderen Osterspaziergang für zwei Journalisten und eine Fotografin – und einen zufällig anwesenden Kirchenbesucher. Dieser war Gernot Kirzl, bei dem LT-Redakteur Gerald Modlinger Ende 1980er-Jahre bei der Friedberger Allgemeinen seine ersten Zeitungsbeiträge verfasste.
Auch vor Ostern herrschen im unbeheizten Marienmünster noch frische Temperaturen. Doch davon war beim Aufstieg in den Dießener Himmel nichts zu spüren: Nicht weil wir den Weg nach oben so flott nahmen. Wer sonst meist nur vom Büro im ersten Stock auf die Straße blickt und sich allenfalls zur Kirschenernte mal auf einen Baum wagt, muss sich erst an die Höhenluft im Marienmünster gewöhnen. Wir haben gerade die ersten Gerüst-Etagen hinter uns gelassen, da tut sich rundum ein tiefer Abgrund ins Kirchenschiff auf. Noch nicht mal auf halber Höhe werden die Knie wacklig und die Hände feucht. Keine greifbare Mauer gibt Halt. Einfach immer nur den Blick zum Dießener Himmel richten, rät der Kirchenpfleger. Aber die Himmelsspaziergänger unternehmen diesen Gang unter die Kuppel ja auch gerade wegen der erhofften neuen Blickwinkel auf das Rokoko-Kunstwerk und wollen den Stuck-Zierrat, die Putten und Fresken auch ganz nah sehen. Langsam und Etage für Etage gewöhnen wir uns an die Höhe.
Schon sitzen uns Gottvater, Jesus Christus und der Heilige Geist gegenüber: Die Darstellung der Dreifaltigkeit krönt den Hochaltar mit seiner Mysterienbühne. Das Morgenlicht lässt die Figurengruppe erstrahlen. Dreht man sich um, findet man sich etwa auf Höhe der Orgelempore wieder und erlebt eine ganz neue Raumwirkung dieser großen Kirchenhalle mit ihrem klaren Ablauf von Bögen und Kapitellen. Aber der Blick fällt auch auf unschöne Stellen, die von der Fußbodensicht aus verborgen bleiben: Auf den Nischen liegen dicke Schmutzschichten. Das komme vor allem vom Kerzenrauch, erklärt Peter Keck. In der Regel bleibt der Staub unerreichbar für die reinigende Hand des Menschen. Als jetzt die Kirchendecke mit einer mobilen Hebebühne untersucht wurde, saugte man zumindest an der Nordseite den Staub ab, strahlend weiß wurden die Gesimse aber trotzdem nicht.
Apropos unerreichbar: Peter Keck zeigt auf zwei Schwalbennester. Natürlich keine echten, so werden vielmehr zwei Balkone an der Westseite der Kirche bezeichnet. Das südliche Nest war einst der Logenplatz der Pröpste des Augustiner-Chorherrenstifts. Aber wer nahm im nördlichen Schwalbennest Platz? Niemand, dorthin gibt es nicht einmal einen Aufgang. Der kunstvolle Balkon wurde nur wegen der Symmetrie des Kirchenraums errichtet. Immerhin, das große Gerüstpodest auf halber Höhe ist jetzt erreicht. Weiter geht es bis zur vorletzten Etage. Aufs letzte Stockwerk führt nur noch eine luftige Leiter und keine kommode Treppe mehr. Eine Sprosse, zwei, drei ... und dann sind wir am Ziel, so nah am Dießener Himmel, dass wir den Kopf ein wenig einziehen müssen, um uns unter der 25,80 Meter hohen Chorkuppel auf Augenhöhe in die Gesellschaft der dort auf dem berühmten Fresko dargestellten Heiligen und Seligen aus der Familie der Dießen-Andechser zu begeben: Der heilige Rasso, die selige Mechtild, die heilige Elisabeth, der selige Rathard ... Peter Keck kennt sie (fast) alle.
Noch näher als an die Heiligen und Seligen kommen wir an den Chorbogen heran, da, wo der Riss klaffte, der in den vergangenen Wochen untersucht und ausgebessert wurde. Nichts mehr ist davon zu sehen. In einer flachen Nische im Chorbogen wurde jetzt ein Messstab angebracht. Er registriert genau Erschütterungen am Bauwerk, erklärt der Kirchenpfleger. Bei künftigen Veränderungen am Bauwerk wird man so leichter die Ursache erkennen können. Viel beeindruckender als das Messgerät ist freilich die Kopernikanische Uhr am Chorbogen, vor allem, wenn sich das riesige Zifferblatt (man muss es ja auch unten ablesen können) jede Minute ein gar nicht so kleines Stückchen um den feststehenden Zeiger dreht.
Nachdenklich stimmen die beiden Allegorien links und rechts der Uhr: Beide tragen eine Sanduhr, die auf die Endlichkeit des Lebens verweist, die eine hält auch einen Krug, der den Quell des Lebens versinnbildlicht, die andere den Schlüssel zur Ewigkeit in der Hand. Das Ziel unseres Osterspaziergangs ist erreicht. Wer weiß, ob es noch einmal eine solche Gelegenheit geben wird, sagt Kirchenpfleger Keck, in den Dießener Himmel zu kommen. Während des irdischen Lebens war dieser Osterspaziergang vielleicht wirklich ein einmaliges Erlebnis. Aber Ostern richtet den Blick ja auch darüber hinaus.