von wolfgang schütz
52 Milliarden – 135 – 0. Drei Zahlen, die gleich zu Beginn dieses restlos ausverkauften Abends mit dem Physikprofessor und Fernsehmoderator fallen und das große Problem konkret machen. Die erste ist die vom Umweltbundesamt festgestellte Summe, die in Deutschland in „umweltschädliche Subventionen“ fließt – besser: floss. Denn die ungeheure Zahl stammt aus dem Jahr 2016 und dürfte sich inzwischen auf bis zu 70 Milliarden erhöht haben (weltweit waren es 2016 rund 5,3 Billionen, also 5300 Milliarden). Die zweite ist die Auflösung eines auflockernden Rätsels, das Harald Lesch seinen wohl gut 300 Zuschauern stellt: Wie hoch ist die durchschnittliche Motorisierung der Autos auf deutschen Straßen in PS? Die dritte Zahl schließlich ist die Anzahl der Insekten, die bei seiner eigenen Anfahrt an diesem Donnerstag mit dem Auto aus München an der Windschutzscheibe verendeten – noch mal in Wort: null.
Und mit diesen drei Zahlen ist bereits der Bogen geschlagen: von den Versäumnissen der Politik bei der Regulierung der Wirtschaft – über das, was die Wirtschaft verkauft, weil es der Kunde halt auch so nachfragt – zu den massiven Folgen in der Natur samt Artensterben bei Pflanzen und Tieren und Gefährdung der menschlichen Lebensgrundlagen. Und der Wissenschaftler Lesch hat natürlich noch viel mehr Zahlen und Fakten parat. Aber für seine Mission ist etwas anderes viel entscheidender. Denn eigentlich wüssten ja alle, die es wissen wollten, wie ernst es um den Planeten und die Zukunft stehe – und bekämen es zudem ja zurecht von den Jugendlichen bei den „Fridays for Future“ vorgehalten.
Lesch will zum Umdenken bewegen
Bloß: Warum handeln dann Politik und Wirtschaft sowie der Einzelne als Bürger und Konsument nicht entsprechend? Leschs Mission also ist: vom Problembewusstsein zum Umdenken und anderen Handeln anzuregen; bei den Menschen anzusetzen, die als Konsumenten die Wirtschaft und als Bürger die Politik unter Druck setzen könnten. Davon handelt auch sein aktueller Bestseller „Wenn nicht jetzt, wann dann?“, und dafür tritt er mit Ko-Autor Klaus Kamphausen auch immer wieder persönlich auf.
Und doch ist dieses ein besonderer Auftritt. Und dazu eine letzte Zahl: 5. Sie steht für das, was den Auftrittsort im Oberallgäu mit seinen gerade mal 2600 Einwohnern deutschlandweit, ja international bekannt gemacht hat, für das, was Lesch hier mit seiner Mission ein Heimspiel haben lässt. Die Gemeinde nämlich heißt Wildpoldsried, wurde im vergangenen Jahr bereits zum wiederholten Mal als vorbildlich in Europa ausgezeichnet, genannt auch „das Energiedorf“, weil hier mittels erneuerbarer Energien circa fünfmal so viel Strom erzeugt wie verbraucht wird. Es passt also perfekt, dass die Macher des Allgäuer Literaturfestivals, die für jeden ihrer vielen prominenten Autoren einen speziellen Ort suchten, Lesch und Kamphausen hierher in diesen Dorfsaal holten. Und Lesch verneigt sich denn auch vor den Wildpoldsriedern und sagt: „Hier ist es schon so, wie wir uns wünschen, dass es irgendwann einmal wird, damit die Welt so ist, wie sie sein soll.“
In diesem Dorf und seinem Erfolg zeigt sich für ihn, den Fernseh-Professor, tatsächlich ein Modell, mit dem man dem zukunftssichernden Verantwortungsprinzip nach Hans Jonas gerecht werden könne: „Handle so, dass deine Handlungen ein echtes gedeihliches Weiterleben aller Menschen möglich machen.“ Während Lesch Deutschland „reich und zukunftsfeige“ nannte, gelte für Wildpoldsried weiterhin: „Tue Gutes und rede darüber.“ Denn wie die Gemeinde in Deutschland Beispiel machen müsse, könnte auch ein Land Beispiel machen, wenn es denn zeige, dass es eine erfolgreiche Energie-Transformation hinbekommen habe und dabei auch noch Geld verdiene.
Freilich weiß der 58-Jährige um aktuelle Signale aus aller Welt, die in eine ganz andere Richtung weisen: ein US-Präsident, der den Klimawandel als Erfindung der Chinesen abtut, ein brasilianischer Präsident, der weitere große Abholzungen in den Amazonas-Regenwäldern angekündigt hat, ein australischer Präsident, der die Steinkohle als Rekord-Exportprodukt des Landes als ungefährlich und zukunftsweisend anpreist… Zudem zeigen neue Messungen, dass China offenbar wieder mit der Produktion des eigentlich weltweit verbotenen Treibhausgases FCWK begonnen hat. Und all das widerspricht ja den zwei goldenen Regeln, die laut Lesch für den Einzelnen Leitlinie sein sollten, aber auch für alle gelten müssten: Ressourcen schonen, Emissionen sparen. Der Blick auf die Verfehlungen in der Welt oder die zunehmende Weltbevölkerung dürfe eben nicht davon ablenken, selbst das Mögliche und Nötige zu tun.
"Das ökologisch Richtige ist das Richtige", sagt Lesch
Es dürfe keine Zweifel geben: „Das ökologisch Richtige ist das Richtige.“ Es zählten keine Ausreden, dass man eh unter so viel Druck im Alltag stehe – denn sollte das tatsächlich dereinst unsere Antwort sein, wenn uns unsere Kinder fragten, warum wir nichts getan hätten? Es gelte, die Gesellschaft – „mit Korpsgeist“, so Lesch, wie in Wildpoldsried eben – auf dieses Richtige und Notwendige hin umzubauen. Denn es sei ja tatsächlich irre, dass es in Zeit und Geld auch in Deutschland noch immer am günstigsten sei, das Falsche, das Schädliche zu tun. Und für das nötige ökologische Umsteuern, aber auch die nötige soziale Umverteilung, hält der Professor auch eine CO2-Steuer für eine richtige Idee (deutlich besser als der Handel mit Emissionszertifikaten, der nie rigoros genug betrieben werde)… Lesch macht klar: Es gibt Lösungen, wir kennen sie bereits, wir müssen sie nur auch umsetzen – vom Einzelnen angefangen.
Mal als Prediger, mal als Kabarettist, mal als Professor tritt er bei diesem fast zweistündigen Heimspiel seiner Mission auf, das am Ende freilich in Einmütigkeit beklatscht wird. Und manchmal auch als Wutbürger. Dass die christlichen Kirchen für die Bewahrung der Schöpfung nicht mit der Jugend bei den „Fridays For Future“ demonstriere, macht ihn fassungslos. Und dass es überhaupt bei den Fragen des Überlebens und der Zukunft noch eine so große schweigende Mehrheit gebe: „Das nenne ich eine Sünde!“
- Harald Lesch mit Klaus Kamphausen: Wenn nicht jetzt, wann dann? Penguin, 368 S., 29 €