Als der allerletzte Vorhang fällt, herrscht Fassungslosigkeit. War die selbst Hollywood-Maßstäbe sprengende Überfrachtung zum Finale nun die passende Eskalation eines ohnehin über alle Grenzen gehenden Aufführungsspektakels? Oder hat sich hier die Inszenierung letztlich selbst verraten?
Messis Hobbit-Heldenreise – und der Fifa-Infant aus "House of Cards"
Der Protagonist – mit nicht nur bei ihm sprechendem Namen, wie es sonst nur Walser wagen würde (Messi-as?, Di Maria!) – steht nach einem allzu Marvel-artig wogenden Gefechtsdrama wie Frodo zu ehren. Doch die Mächtigen (ein westlicher Infant des Turbokapitalismus nebst klischeehaft traditionalen Oriental-Autokraten) umrahmen und überragen den bärtigen Hobbit dabei so feist wie triumphal grinsend, als hätte dessen Heldenreise letztlich prächtigst ihren dunklen Zwecken gedient.
Und als wäre das nicht genug, bekommt er zur Überreichung des heiligen Grals der Unsterblichkeit (in Form eines Gold-Penis) auch noch eine Kutte umgehängt, die ihn, das vermeintlich erhabene Genie, vereinnahmt – bevor der Kleine im Fummel beim anschließenden Jubel auf ein (doch offenkundig vorinstalliertes!) Podestchen inmitten seiner Gefährten tritt. Was für Substanzen oder wie viel Wagner hatten Regie und Drehbuchschreiber da konsumiert?
Andererseits hat sich diese Neuinszenierung der vierjährlichen Fußball-Passion ja eh erstmals auf ein Spiel mit der Logik der Streaming-Serien eingelassen, die die Kulturindustrie der Gegenwart bestimmt. Spannung wurde schon früh vorab geteasert, dann halfen Cliffhanger von Spieltag zu Spieltag. Ob das nun billig oder doch klug war, weil im Zynismus auf die Spitze getrieben? Jedenfalls erreichte der Menschenrechts-Skandal zur Aufführung, dass in den Wohlstandsländern die Art von Debatte entfacht wurde, die dort für die meiste Aufmerksamkeit sorgt: eine moralische. Und während sich in den Reaktionen des Fifa-Infanten etwas zu deutlich Verweise aufs fiktive „House of Cards“ und den realen Trump kreuzten, verwandelten die Drehbuchschreiber das Ganze auf dem Spielfeld in eine Parabel, die etwas auffällig Richtung Brecht linst. Mit der deutschen nämlich erlitt diejenige Mannschaft, die sich am – nun ja, Hand aufs Herz, äh, vor den Mund? – deutlichsten positionierte, am spektakulärsten Schiffbruch.
Ronaldo, Neymar, Messi, Mbappé – viel Prominenz, mieses Produkt?
Ein Titelkandidat? Es war, als spiegelte sich die sportliche Selbstüberschätzung in der moralischen. Serviert mit doppelter ironischer Spitze: Das „Pech“ einer arg konstruierten Millimeterentscheidung im Parallelspiel entschied über das Ausscheiden; und ein anderes Team, das den gleichen Fehlstart hinlegte, holte letztlich den Titel. Weil Mentalitätskollektiv und Abwehr funktionierten?
Hier setzte die Inszenierung die womöglich klügste, weil doppelbödigste Pointe. Denn während in begleitenden Analysen das eben als Erfolgsstrategie gefeiert wurde, berauschte man sich gleichzeitig wie nie an konkurrierenden Heldengeschichten. Das „Game of Thrones“ erforderte einen bitter aufs allzu menschliche Maß gestutzten Gotteskandidaten (Ronaldo), einen tragisch tränenreich an einem jener Kollektive (Kroatien, mit Mini-Hobbit) zerschellten (Neymar); es lieferte dafür aber auch das vermeintlich lupenreine Messi-Märchen (samt Schmerzen bis zuletzt) und bereits einen ein letztes Mal noch in Zaum gehaltenen göttlichen Nachfolger (Mbappé). Mehr an prominenter Besetzung und Zuspitzung ging nun wirklich nicht – emotional angereichert auch noch durch die virtuelle Gegenwart der alten Götter (Pelé und Maradona). Armutszeugnis für eine Regie, wenn sie so viel Prominenz auffährt. Weil sie dem eigenen Produkt nicht mehr vertraut? Oder ist das gar nicht mehr zu trennen?
Hier könnte die Inszenierung als treffliche Bespiegelung des herrschenden (Medien-)Kapitalismus dienen. Der Gemeinsinn wird so wortreich beschworen wie die Resilienz – und doch starrt alles auf wenige Einzelne: Influencer, Superreiche, Adel, Stars … – Dauer-Casting im post-post-heroischen Zeitalter. Da lassen sich die globalen Größtkonzerne leicht als Sponsoren gewinnen, von Coca Cola, McDonald’s und Budweiser aus den USA bis zur Wanda Group und Mengniu Dairy aus China, Byju’s aus Indien, crypto.com aus Singapur … Ein plakatives, aber doch einleuchtendes Bühnenszenario. Aber das Marktmoralisieren war dann doch ein bisschen zu dampfhammerhaft. Ja, klar, das größte Event der beliebtesten Sportart weltweit – und wem es da gelingt, auf anderen Märkten für Furore zu sorgen wie hier durch Erfolge Marokkos und Japans, der kann die paar empörten Boykottierer im guten alten Europa gerne verlieren – die Wachstumsmärkte sind andere, und die Wachstumslogik kennt keine Moral …
Wer regiert die Welt? Die Fußball-WM hat die Antwort, oder?
Interessanter geriet da die Bespiegelung des Politischen. Denn regiert wird das aufgeführte Welttheater (wie die Welt?) von unreglementierten Konzernen, die sich am besten mit Staaten verstehen, die ebenso funktionieren. Der Rest sind Brot und Spiele. Das einem Millionenpublikum bei einer solchen Aufführung mit derartiger Offenheit vor Augen zu führen, ist schon ein starkes Stück. Ob es deshalb auch starkes Theater ist?
Dazu hätte der schamlosen, überbordenden Inszenierung vielleicht statt des ständigen Pokal-Feuerwerks vor jedem Spielbeginn doch noch der eine oder andere Verfremdungseffekt mehr gut getan. Wenn etwa ein Schneesturm losgebrochen wäre, sich Klima-Aktivisten an Fußball geklebt oder der zum besten Torhüter des Turniers gewählte Martinez den Goldhandschuh sich vor versammeltem Weltpublikum obszön aufragend an den Schoß gehalten hätte, dann hätte vielleicht doch der eine oder andere mehr geglaubt, dass das hier wirklich stattgefunden haben soll. So aber: Zum Glück vier Jahre Aufführungspause jetzt. Und dann: Dacapo in Trump-USA?