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Warum laufen Menschen Amok?: Die dunkle Seite des Alltags

Warum laufen Menschen Amok?

Die dunkle Seite des Alltags

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    Die dunkle Seite des Alltags
    Die dunkle Seite des Alltags

    „Was ist das, was in uns lügt, stiehlt, mordet?“, fragt Georg Büchner in „Dantons Tod“. Und so fragt sich die Welt, was das war in Anders Behring Breivik, das da mordete. Es ist verführerisch, einfache Antworten zu suchen. Doch die Antwort, „Das war es also!“, gibt es nicht. Die Ursachen sind vielfältig. Der Amokforscher und Gefängnispsychologe Götz Eisenberg schreibt in seinem Buch „... damit mich kein Mensch mehr vergisst!“, dass die Normalität die Ungeheuer gebäre: „Der Amokläufer verkörpert die dunkle Seite des Alltags.“ Amok entziehe sich dem Versuch, ihm einen Sinn zu geben.

    „Was aber, wenn die Motive hierfür im Bereich dessen zu suchen wären, was man ’medialen Narzissmus’ nennt?“, fragt der Psychologe und zielt damit auf eine Persönlichkeit von geringem Selbstwertgefühl, die die Wahrnehmung der Medien zur Bestätigung braucht. Ein Foto von der Tat liefert erste Indizien für die Vermutung. Es zeigt Breivik in Polizeiuniform am Ufer der Insel Utøya, umgeben von Toten. Der Massenmörder ist von hinten zu sehen, sein Kopf jedoch zur Kamera gedreht, die ihn gerade aufnimmt. Ob er in die Linse blickt, ist nicht zu erkennen. Er weiß aber, dass in diesem Moment die Augen der Welt auf ihn gerichtet sind. Denn genau dies wollte er.

    Ein Kennzeichen der Amokläufe ist für Eisenberg die „letzte Supershow“, der Abgang in einer großen „Mordorgie“, die von den Kameras festgehalten wird. Die Täter wollten durch ihre Taten berühmt werden, wollten nach einem erfolglosen Leben wenigstens als „Negativ-Held in die Hall of Fame der Übeltäter eingehen.“ Laut Eisenberg will der narzisstische Täter in seinem eigenen Untergang tendenziell die ganze Welt mitreißen. Das, was man als schwere Krankheitssymptome mit den Namen narzisstische oder Borderline-Störung belegt, drohe zur sozialpsychologischen Signatur der Mediengesellschaft zu werden. So formulierte Tim K. vor seinem Amoklauf in Winnenden: „Also ich meine nur man wird noch berühmt und bleibt anderen im Gedächtnis.“

    Im Amoklauf wird die erträumte Wahn-Figur Realität

    Im Glanze des Kamera-Auges wollte Breivik seine Tat verewigen. Er selbst spricht in seinem 1500 Seiten langen, im Internet hinterlassenen Manifest davon, dass mit der gewollten Festnahme die „Propaganda-Phase“ beginne. Deshalb fehlt hier, dass der Täter sich selbst richtet, ein eigentlich typisches Zeichen vieler Amokläufe.

    Amokläufe: Von Texas über Winnenden bis Oslo

    Der 1. August 1966 gilt als Auftakt der seitdem nicht mehr abgerissenen Serie von Amokläufen: An der Universität von Texas schießt ein Mann mehr als eine Stunde lang von einem Turm der Uni herunter auf Menschen. 14 Personen kommen ums Leben.

    Am 16. Oktober 1991 bringt in Killeen (Texas) ein Mann in einem Café 23 Personen um. Anschließend richtet er sich selbst.

    20. April 1999: Die beiden Schüler Eric Harris und Dylan Klebold stürmen die Columbine High School in Littleton in den USA. Sie töten dort zwölf Schüler und einen Lehrer. 24 weitere Personen werden verletzt. Danach richten sich die Amokläufer selbst. Diese Tat gilt als zweiter Auftakt von Amokläufen und als Beginn des Schul-Amoks.

    Der erste Schulamok in Deutschland findet am 26. April 2002 statt: Am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt tötet der 19 Jahre alte Schüler Robert S. 16 Menschen. Danach richtet er sich selbst. Der Amokläufer war ein Jahr zuvor von der Schule verwiesen worden.

    In Emsdetten schießt ein 18-Jähriger 20. November 2006 in seiner ehemaligen Schule um sich. Mehrere Menschen werden verletzt. Dann tötet sich der Täter selbst.

    Am 16. April 2007 erschießt ein Mann an der Technischen Universität von Virginia 32 Menschen und verletzt 15 weitere. Es ist der folgenschwerste Amoklauf in der Geschichte der USA.

    Der Amoklauf von Winnenden am 11. März 2009: Der 17 Jahre alte Tim K. tötet 15 Menschen. Nachdem einer mehrstündigen Flucht vor der Polizei tötet er sich selbst.

    Am 22. Juli 2011 lässt der spätere Amokläufer Anders Behring Brevik eine Autobombe in Oslo detonieren. Danach fährt er auf die nahegelegene Insel Utoya und tötet etwa 70 Jugendliche.

    Bei einem Amoklauf im belgischen Lüttich tötet ein 33-jähriger Belgier am 13. Dezember 2011 sechs Menschen und verletzt 124 weitere Opfer.

    In Serbien erschießt ein Mann im April 2013 insgesamt 13 Verwandte und Nachbarn, darunter sechs Frauen und ein kleines Kind.

    Zur Dramaturgie des Amoklaufs gehört die Verkleidung, die Metamorphose des einfachen Menschen in die erträumte Wahn-Figur: Die Täter des Massakers an der Columbine High School trugen am 20. April 1999 lange Trenchcoat-Mäntel und schwere Schuhe. Robert S. schoss 2002 in seiner Erfurter Schule in Schwarz gekleidet und maskiert um sich. Tim K. betrat am 11. März 2009 in schwarzer Kampfkleidung die Realschule von Winnenden.

    Und auch Anders Behring Breivik war verkleidet – als Polizist. In seinem Manifest hatte er angekündigt: „Die erste Kostümparty des Jahres, ich verkleide mich als Polizist. Das wird großartig, die Leute werden erstaunt sein.“ Dass er diese Aussagen mit Smileys kommentierte, bleibt eine Randnotiz.

    Schon zuvor hatte sich der spätere Attentäter verkleidet und, ganz narzisstisch, fotografieren lassen: als Marine-Soldat mit Gewehr im Anschlag, als Freimaurer und als Sonnyboy von nebenan. In seinem Manifest und einer Video-Kurzversion auf Youtube träumt sich Breivik außerdem in die Rolle von Kreuz- und Tempelrittern.

    Killerspiele als Choreografie des Amoklaufs?

    Die Verwandlung des Gescheiterten in einen Krieger gleicht einem Eintauchen in die virtuelle Welt von Computerspielen. Den Ego-Shooter Modern Warfare 2 und das Rollenspiel World of Warcraft (WoW) soll Breivik gespielt haben. Diente laut seinem Manifest WoW lediglich als Täuschung seiner Freunde, die sich fragten, was er denn die ganze Zeit mache, so übte der Täter in Modern Warfare das Zielen.

    Die Choreografie der Amokläufe scheine durch solche Spiele inspiriert zu sein, meint Eisenberg: „Schwarze Kampfanzüge, Maskierung, die Art der Bewegung durch das Gebäude und das Durchsuchen der Räume erinnern fatal an die Abläufe in Baller-Spielen.“ Doch den Einfluss solcher Spiele will der Experte nicht überschätzen. In der Tat: Würden Killer-Spiele automatisch Amokläufe auslösen, dann gäbe es täglich Dutzende, denn Computerspielen ist alltäglich.

    Auch Anders Behring Breivik war eigentlich ein alltäglicher Typ, jedenfalls nach außen: Als netten Mann kannten ihn seine Nachbarn: „Für mich war er ein Allerweltsmensch“, sagt Emil Finneruo, der mit dem 32-Jährigen in die Schule ging und um die Ecke lebt: „der klassische Typ halt: weiß, Mittelklasse, immer sauber und ordentlich.“ Ist vielleicht genau dies, wie so oft bei Amokläufen, das Verstörende? Ein scheinbar freundlicher Mann wird zum Massenmörder. Aus Alltag wird Amok.

    Der Amoklauf soll die alte Ordnung wiederherstellen

    Breivik, so gibt sein Manifest preis, sah viele Feinde: Sein leiblicher Vater verließ ihn nach der Geburt, und er redet davon, dass Väter heute „Karikaturen“ seien, dass Frauen die letzten Männerdomänen erobert hätten. Alles Alte zerfalle. Muslime und „Kulturmarxisten“ unterwanderten die Gesellschaft, hemmungslose Sexualität mache sich breit. So fasst Breivik einen Entschluss, den der Psychologe Eisenberg als typisch kennt und so beschreibt: „... die Erosion der Normalität, die [er] seit Längerem schon bemerkt, nicht mehr hinzunehmen und sich dem Zerfall der Ordnung energisch entgegenzustellen“.

    Zu einem ähnlichen Schluss kommt der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer: „Sie sind unzufrieden und unglücklich. Sie schauen auf andere Menschen, denen das Leben Freude macht, und entwickeln einen tief verwurzelten Hass und Neid auf diese Personen.“

    Einfache Erklärungen gibt es gleichwohl nicht. Den jetzt wohl wieder anstehenden Debatten über Werte und den blinden Aktionismus von Politikern erteilt Eisenberg eine Absage: „Wenn in einer Gesellschaft über ’Werte’ intensiv gesprochen wird, ist es eigentlich schon zu spät.“

    Am Ende seines Buches zitiert der Autor Goethe: „Wenn ich von den Verbrechen lese, so habe ich die Empfindung, dass ich fähig wäre, ein jegliches davon selbst zu begehen.“ Versöhnlich, wenn auch unter dem Schock der aktuellen Ereignisse zunächst kaum nachvollziehbar, lesen sich Eisenbergs Schlussworte: „Was immer ein Straftäter getan haben mag, er ist und bleibt Meinesgleichen und Unsereiner – nicht mehr und nicht weniger als ein Mensch.“

    Götz Eisenberg: „... damit mich kein Mensch mehr vergisst! Warum Amok und Gewalt kein Zufall sind“. Pattloch Verlag, 304 Seiten, 16,95 Euro

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