Claudia Roth hat wieder einmal ihr Lieblingssteckenpferd geritten. Nämlich die Hochkultur, in den Augen der Kulturstaatsministerin zumindest in Teilen ein Hort der ältlich-unbunten Einfalt, künftig vielfältiger, bunter und jünger werden zu lassen. Das sagte sie kürzlich in einem Interview, und die feste Burg, die es nach Meinung der Grünen-Politikerin unter anderem zu schleifen gilt, ist das Bayreuther Festspielhaus mit seinen Wagner-Festspielen. Roth schwebt unter anderem vor, dass auf dem Grünen Hügel nicht mehr bloß Wagners Werke aufgeführt werden, sondern auch Stücke anderer Komponisten, konkret nennt sie Engelbert Humperdinck. Nicht ganz neuwertig, dieser Vorstoß, doch für ein bisschen Publicity allemal tauglich im Vorfeld der am Donnerstag (25. Juli) startenden Bayreuther Festspiele.
Wobei man sich ja fragen kann, warum dort eigentlich immer dieselben zehn Opern zur Aufführung kommen, seit bald eineinhalb Jahrhunderten. Wagner selbst hat derlei nämlich gar nicht verfügt, als er 1883 starb. Dass im Festspielhaus, seitdem es 1876 mit der Aufführung der Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ eingeweiht worden war, lediglich Wagner zur Aufführung kommen soll, war eine Festlegung der Witwe Cosima Wagner. Die sich insoweit an Vorstellungen ihres Verstorbenen orientierte, als sie frühere Pläne von ihm aufgriff, welche seiner Opern in weiteren Jahren im Festspielhaus auf die Bühne kommen sollten. Und da waren, außer den noch von Wagner selbst inszenierten (die vier „Ring“-Opern sowie „Parsifal“), lediglich die Werke ab dem „Fliegenden Holländer“ genannt, also noch „Tannhäuser“, „Lohengrin“, „Tristan und Isolde“ und „Die Meistersinger von Nürnberg“. Nicht erwähnt hatte Wagner seine frühen Opern „Die Feen“, „Das Liebesverbot“ und „Rienzi“; aber eben auch nicht ausdrücklich ausgeschlossen.
Die Witwe Cosima prägte den Kanon
Cosima Wagner also war es, die den Kanon der zehn in Bayreuth gespielten Opern begründete. Und zwar, wo Richard nicht mehr selbst Hand hatte anlegen können, in zunächst eigenen Inszenierungen, wobei sie durchaus Widerständen begegnete. Rümpften eingefleischte Wagnerianer doch die Nase, als „Tannhäuser“ 1891 erstmals im Festspielhaus aufgeführt wurde, ein Werk mit erotisch expliziten und daher als unpassend fürs Bayreuther Allerheiligste empfundenen Szenen.
So entstand der Mythos Bayreuth: Wagners Werk an jener Stätte, die der Meister selbst geformt hatte (als Festspiel-Veranstaltung im eigens dafür konzipierten Festspielhaus), ausgerichtet von Angehörigen der Wagner-Dynastie, Garanten größtmöglicher Kompetenz. Dass darin zugleich jede Menge werbeträchtiges Potenzial schlummerte, erkannte die Familie früh. Aufs dynastische Gütesiegel pochend, folgte auf Cosima deren und Richards Sohn Siegfried, danach übernahm dessen Witwe, die NS-affine Winifred Wagner, nach dem Weltkrieg waren es die Söhne Wieland und Wolfgang. Bis heute liegen Bayreuths künstlerische Geschicke in den Händen der Familie, mittlerweile in vierter Generation, bei Katharina Wagner, deren Leitungsfunktion vor einigen Wochen bis ins Jahr 2030 verlängert worden ist.
Wie wär’s mit Meyerbeer im Festspielhaus?
Festgezurrt worden war der Werke-Kanon erst mit Einrichtung der Richard-Wagner-Stiftung, zu Beginn der 1970er-Jahre maßgeblich betrieben von Wolfgang Wagner, dem Vater Katharinas. Stimmen, die ein Aufbrechen dieser strikten Festlegung fordern, gibt es immer wieder. Mit unterschiedlicher Stoßrichtung: In bewusst gesetztem Kontrast zum Antisemiten Richard Wagner, lautet einer dieser Vorschläge, sollte man im Festspielhaus beispielsweise Opern von Giacomo Meyerbeer spielen, dem von Wagner verleumdeten Exponenten der französischen Großen Oper.
Claudia Roth wiederum schlägt Engelbert Humperdinck vor. Nicht schlecht gedacht, assistierte Humperdinck doch Wagner bei den Vorbereitungen zum „Parsifal“, zudem war er Kompositionslehrer des Wagner-Sohnes Siegfried. Dass die Kulturstaatsministerin ausgerechnet Humperdincks „Hänsel und Gretel“ benennt, die deutsche Weihnachtsoper schlechthin, ist wohl dem Rothschen Wunsch nach Publikumsverjüngung geschuldet. Dass Letzteres unter Katharina Wagner schon seit Jahren geschieht durch Festspiel-Kinderversionen von Wagner-Opern, scheint nicht ins Blickfeld vorgedrungen zu sein.
Zum Jubiläum der Bayreuther Festspiele gibt es Neues
Katharina Wagner ist es auch, die schon im vergangenen Sommer angekündigt hat, bei den Festspielen die Reihe der zehn sakrosankten Opern des Urgroßvaters zumindest erweitern zu wollen. In zwei Jahren, zum 150-Jahr-Jubiläum der Festspiele, soll erstmals - und mit Billigung der inzwischen weitverzweigten Familie, wie Katharina Wagner anmerkte - „Rienzi“ einstudiert werden, Wagners Oper um den gleichnamigen römischen Volkstribun. So geht man über den bisherigen Kanon hinaus und hält dennoch dem örtlichen Genius die Treue.
Behutsam und trotzdem kontinuierlich ist Katharina Wagners Strategie der Modifizierung auch an anderer Stelle. Diesen Sommer etwa dirigieren erstmals mehr Frauen als Männer im Orchestergraben. Nachdem Oksana Lyniv („Holländer“) und Nathalie Stutzmann („Tannhäuser“) bereits gesetzt waren, kommt nun mit Simone Young noch eine weitere Dirigentin dazu. Young ist die erste Frau auf dem Hügel, die den kompletten „Ring“-Zyklus übernehmen wird. Den Männern verbleiben „Parsifal“ (Pablo Heras-Casado) sowie „Tristan und Isolde“ - Semyon Bychkov dirigiert die Neueinstudierung durch Thorleifur Örn Arnarsson.
Damit nicht genug der Festspiel-Neuerungen. Dem Spiegel hat Katharina Wagner schon mal verraten, dass es ab 2027 jährlich zwei Neueinstudierungen statt der bisher üblichen einen geben soll, die jeweilige Laufzeit auf zwei Spielzeiten verkürzt. Für Bayreuther Verhältnisse also nicht wenig Neues, womit sich da innerhalb weniger Jahre die Wagner-Gemeinde konfrontiert sieht. Und doch, im Kern bleibt die Marke erhalten: Im Festspielhaus nichts als Wagner. Das Alleinstellungsmerkmal, aus dem der Mythos Bayreuth sich speist.
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