D-D-D D-A … Wenn die Pauke diese fünf Töne schlägt, ist Weihnachten. Einzigartig dieser Beginn: flirrende Flötentriller, strahlend aufsteigende Trompetenfanfaren, festliches Streichersternenfeuer, bevor der Chor die Töne des Anfangs wiederaufnimmt - „Jauchzet, frohlocket, auf preiset die Tage“. Es ist ohne Frage das populärste Musikstück seines Schöpfers: das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach.
Das Werk, zur Weihnachtszeit 1734/35 erstmals erklungen, hat eine beispiellose Karriere hinter sich. Denn zumindest im deutschsprachigen Raum sind die Festtage ohne das Bachsche Oratorium nicht denkbar, und wenn es nur aus dem Radio erschallt. Es ist derart zur klingenden Chiffre der Geburt Jesu und des ganzen Weihnachtsfestkreises geworden, dass selbst das Fernsehen nicht daran vorbeikam, der fiktiven Entstehung des Oratoriums - über die tatsächlichen Umstände ist wenig Belegbares bekannt - dieser Tage einen abendfüllenden Spielfilm zu widmen.
Ein Oratorium für sechs Tage während der Weihnachtszeit
Umso erstaunlicher, als das Stück für Chor, Orchester und Gesangssolisten den Hörer durchaus fordert. Was heutigentags schon allein daran liegt, dass das aus sechs Teilen bestehende Oratorium überwiegend en bloc aufgeführt wird. Meist aufgesplittet in die Kantaten-Segmente I bis III und IV bis VI; aber schon auch mal alle sechs zu einem Konzerttermin, Gesamtdauer zweieinhalb Stunden. Zu Bachs Zeit war das noch anders gedacht, die sechs Kantaten erklangen im Gottesdienst an sechs Tagen „die heilige Weihnacht über“, wie es im originalen Textdruck heißt - beginnend mit dem ersten Weihnachtstag und schließend mit dem Dreikönigsfest.
Der inhaltliche Rahmen des Weihnachtsoratoriums präsentiert die Weihnachtsgeschichte, wie sie von den Evangelisten Lukas und Matthäus in der Bibel erzählt wird; zugleich wird das Geschehen in Text und Musik gedeutet. Bach hat sich dazu einer Vielzahl verschiedener Formen bedient, denen jeweils eigene Funktion zukommt. Während der Bericht des vom Solotenor gesungenen Evangelisten sich strikt an das Bibelwort nach Luther hält, ist in den zahlreich eingestreuten Chorälen die Perspektive der christlichen Glaubensgemeinschaft eingenommen: Was bedeutet das berichtete Geschehen für uns? Noch tiefere Reflexion über die Bedeutung des Weihnachtsgeschehens für den einzelnen Menschen erfolgt in den Arien, die sowohl in innigem Ton gehalten sein können wie die Alt-Arien „Bereite dich, Zion“ (Kantate I) oder „Schließe mein Herz, dies selige Wunder“ (III) als auch kraftvoll glaubensgewiss, etwa das Bass-Solo „Großer Herr, o starker König“ (I) oder die Tenor-Arie „Nun mögt ihr stolzen Feinde schrecken“ (VI)..
Ob man nun gläubig ist oder nicht, das Weihnachtsoratorium berührt
Damit kommt Bachs Weihnachtsoratorium der Charakter einer Gottesdienstteilnahme zu. Für uns Heutige in einer Zeit, in der die Kirchenbesuche weniger werden und der Gang zur Messe selbst an Weihnachten nicht mehr zur Selbstverständlichkeit gehört. In Text und Musik des Weihnachtsoratoriums aber geben Bach und sein mutmaßlicher Librettist Picander (Christian Friedrich Henrici) den Gläubigen Gelegenheit zu persönlicher Identifikation. Aber sie tun es auf eine Weise, die auch den weniger Glaubensfesten, ja selbst den religiös Ungebundenen berührt. Wobei es letztlich dann doch vor allem die Musik ist, die, alle Jahre wieder, den Zauber der Weihnacht zu verströmen vermag: Das von jeglichem Kitsch freie Besinnliche, Behütete, Befriedete - beispielhaft in Töne gesetzt in einem Stück wie der wiegenden, dank des Einsatzes von Oboe d‘amore und Oboe da caccia sanfte Hirtenklänge assoziierenden Sinfonia, der Instrumentaleröffnung des zweiten Oratorienteils.
Für den Hörer dieser klingenden Weihnacht ist freilich immer wieder frappierend, dass ihr Komponist einen Großteil der Musik recycelt, ihn schon einmal in anderem Zusammenhang gebraucht hat. Ein gängiges Verfahren der Bach-Zeit, dieses sogenannte Parodieren, das Neubetexten gleichbleibender Musik. Insbesondere das Material zweier Kantaten, die Bach als Huldigungsstücke auf Familienmitglieder des sächsischen Königshauses geschrieben hatte, haben Wiederverwendung im Weihnachtsoratorium gefunden: Die Kantaten „Lasst uns sorgen, lasst uns wachen“ und „Tönet ihr Pauken! Erschallet Trompeten!“ - beides Kompositionen, die keinesfalls biblisches Geschehen, sondern aus der antiken Mythologie entlehnte Stoffe vertonen.
Musik für Herkules wird zur Musik für Weihnachten
Wie aber, fragt man sich, kann es sein, dass eben jene Musik in uns Hörern Weihnachtsstimmung erweckt, die ursprünglich, wie bei „Lasst und sorgen, lasst uns wachen“, vom Leben des jungen Griechen-Helden Herkules erzählt? Genügt es, die berühmten Instrumentallinien des Oratoriums-Eingangschors Dutzende Male im weihnachtlichen „Jauchzet, frohlocket“-Modus vernommen und verinnerlicht zu haben, um derselben Musik den Sinnzusammenhang abzusprechen, sobald sie die Textzeilen „Tönet, ihr Pauken“ und damit ein Aufeinandertreffen antiker Göttinnen begleitet?
Frappierender noch als dieser Sachverhalt selbst ist die Erkenntnis: Ja, das geht. Bachs singuläre Weihnachtsmusik ist wirkmächtig in unterschiedlichen Zusammenhängen. Der Komponist selbst wohl hat erkannt, dass ihm da mit seinen Huldigungskantaten wie mit den weiteren Werken, die er für das Oratorium heranzog und neu betexten ließ, Musik von außergewöhnlicher Substanz gelungen war. Musik, die grundlegende Empfindungen und Impulse zu vermitteln vermag, wie beispielsweise helllichte Freude oder existenzielles Reflexionsbedürfnis; Musik, der dies unabhängig gelingt von den Texten, zu denen sie sich gesellt.
Der beste Beweis, wie recht der Komponist hatte, als er für sein sechsteiliges Oratorium auf bereits bestehende eigene Kantaten zurückgriff, ist der Erfolg der Tat: Fast 300 Jahre nach seiner Entstehung ist Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium noch immer die Weihnachtsmusik schlechthin. Und wird es gewiss noch lange bleiben.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden