An einem kühlen Maiabend steht Aloïs Guinut vor dem Eingang einer Boutique im angesagten Pariser Stadtviertel Marais. Die Mode-Expertin trägt ein buntes Kleid, einen Trenchcoat und schwarze Lederstiefel. Ist das jetzt schon typisch pariserisch? „Ich finde schon“, sagt sie. „Das béret habe ich absichtlich in meiner Tasche gelassen“, fügt sie hinzu und zieht eine rote Baskenmütze heraus. Sonst hätte sie damit sofort alle modischen Klischees bestätigt.
La belle France, la grande nation! Schlaraffenland für Gourmets, Blaupause der gepflegten Streikkultur, Wiege der haute couture. Klischees über unsere große Nachbarin im Westen gibt es zuhauf. Ob im Sommerurlaub oder auf dem großen politischen Parkett, es fällt auf: Die Französinnen und Franzosen treten unverkennbar stilvoll auf. Kann man Stil lernen?
Guinut ist Stilberaterin und bekannt für ihr Buch „Dress like a Parisian“, in dem sie Leserinnen und Lesern Tipps gibt, sich möglichst pariserisch stilvoll zu kleiden. Im Laden ist sie kaum mehr zu halten: Sie sucht verschiedene Kleidungsstücke heraus und legt sie auf einen Tisch, um zu sehen, wie man sie am besten kombinieren könnte. Kurz bevor Guinut in der Boutique das passende Oberteil zur beigefarbenen Hose und der türkisfarbenen Handtasche sucht, habe sie noch eine Kundin gestylt, erzählt sie. „Sie startet in ihr Berufsleben als Anwältin, möchte jedoch ihren Stil nicht wegen des Arbeitsumfelds verändern.“ Den individuellen Stil ihrer Klientinnen und Klienten möchte Guinut bei der Beratung nicht austreiben, im Gegenteil: „Ich achte darauf, zu welchen Teilen es sie im Laden als Erstes zieht und versuche, die dann am besten zu kombinieren.“
Frankreichs Modeindustrie lebt von seinen Emblemen
Während des Gesprächs schielt sie immer wieder auf die Outfits der anderen Kunden, erklärt nebenbei, welche Merkmale deren Kleidungsstil „französisch“ machen. Egal, ob Hose, Oberteil, Accessoires oder Make-up: Zwar kleide sich nicht jeder Pariser oder jede Französin gleich, man erkenne den Stil jedoch an Details. „Franzosen stehen nicht auf große Logos.“
Wobei das mit den Logos so eine Sache ist. Gerade Frankreichs Modeindustrie lebt von seinen Emblemen, die auf der ganzen Welt Handtaschen, T-Shirts und Tennissocken als modisch ausweisen.
Eine halbe Stunde Fußmarsch vom In-Viertel Le Marais liegt der Place Vendôme. Wer hier entlangspaziert, bekommt einen Eindruck davon, wie stark die Welt der Luxusmarken das Land prägt. Hier am Platz, im Hotel Ritz, bewohnte Coco Chanel einst über 30 Jahre lang eine Suite. Auf der gegenüberliegenden Seite befinden sich die Boutiquen und Juweliergeschäfte der großen französischen Namen. Chanel, Dior und Louis Vuitton steht über den Schaufenstern, dahinter Uhren und Schmuck für Kundinnen und Kunden mit entsprechender Kaufkraft.
Das Beratungsunternehmen „Interbrand“ veröffentlicht regelmäßig ein Ranking mit den weltweit wertvollsten Luxusmarken. Aus Italien sind exklusive Hersteller wie Prada oder Gucci auf dieser Liste, aber die meisten Marken kommen aus Frankreich. Und sie belegen seit Langem die vordersten Plätze. Dritter Platz im vergangenen Jahr: Hermès mit einem Markenwert von 30 Milliarden Dollar. Zweiter Platz: Chanel, eine Milliarde Dollar mehr. Erster Platz: Louis Vuitton, mehr als 46 Milliarden Dollar wert. Zum Vergleich: Das ist nur etwas weniger als Unternehmen wie Disney oder der US-amerikanische E-Autobauer Tesla wert sind.
Louis Vuitton… Überall im Pariser Stadtzentrum taucht dieser Name auf. Nicht unbedingt auf den braunen Lederhandtaschen, für die das Luxusunternehmen so bekannt ist. Es sind die Boutiquen und Kaufhäuser, die einen immer wieder an Frankreichs vielleicht bekannteste Marke erinnern.
Louis-Vuitton-Chef Arnault: Mode-Patriarch und reichster Mensch der Welt
Allen voran die Ecke an der Brücke Pont Neuf, wo das zum Unternehmen gehörende Luxus-Kaufhaus La Samaritaine liegt, nebst einer Reihe anderer Louis-Vuitton-Gebäuden in der Nachbarschaft. Auf großen Bildschirmen wirbt das Unternehmen für seine Mode. Aufnahmen von Roger Federer und Rafael Nadal werden eingeblendet. Welches Unternehmen kann schon von sich behaupten, mit den zwei bekanntesten Tennisspielern dieser Zeit Werbung zu machen? Was das wohl gekostet hat?
Louis Vuitton, 1854 von einem Pariser Kofferhändler gegründet, gehört heute zur Gruppe LVMH. Nach Börsenkurs ist LVMH das wertvollste Unternehmen Frankreichs. Unter dem Dach der Gruppe finden sich auch Champagner- und Cognac-Hersteller, doch am stärksten wächst seit Jahren die Sparte mit den edlen Modemarken. Fendi, Dior, das französische Modehaus Givenchy… Sie alle sorgen dafür, dass die Unternehmensgruppe immer mehr Umsatz macht, dass das stilistische Aushängeschild Frankreichs immer bekannter wird.
LVMH-Chef Bernard Arnault konnte ein gigantisches Vermögen anhäufen. Weit über 200 Milliarden US-Dollar soll der 75-Jährige schwer sein, Arnault wechselt sich regelmäßig mit Tesla-Chef Elon Musk auf Platz 1 der weltweit reichsten Menschen ab. Man kann viel Geld verdienen mit E-Autos, Online-Shops, Software, mit Sozialen Netzwerken. Richtig viel Geld wird in Frankreich aber mit Mode gemacht.
Ludwig XIV. legt den Grundstein für Frankreichs Modeindustrie
Dass Stil so einen hohen Stellenwert in Frankreich hat, hängt mit der Geschichte des Landes zusammen. Die Anfänge der Modeindustrie gehen schon auf Ludwig XIV. zurück. Modebloggerin Guinut erklärt, der Sonnenkönig und Bauherr von Schloss Versailles hatte nicht nur privat ein Faible für ausgefallene Kleidung und überbordenden Luxus: „Ludwig XIV. war der Erste, der die Modeindustrie auch politisch stark gefördert hat.“
Der Monarch schränkt im 17. und 18. Jahrhundert den Import von Mode und Luxusartikeln aus dem Ausland ein und sorgt dafür, dass Designer fortan in Sommer- und Winterkollektionen denken. Zeitgleich entwickeln sich die Vogesen im ärmlichen Osten des Landes zur Wiege der französischen Textilindustrie. Rund ein Drittel der französischen Bevölkerung ist plötzlich mit der Textilherstellung beschäftigt. Während vor Ludwigs Zeit auf dem Thron Mode aus Spanien angesagt war, trägt man bald in ganz Europa schicke Kleider aus Frankreich.
Modeschöpferin Coco Chanel revolutioniert die französische Mode
200 Jahre später, die Belle Époque klingt gerade aus, gibt Coco Chanel den Anstoß für einen neuen chic parisien. Kleidung darf fortan elegant und bequem zugleich sein: Chanel schafft das Korsett ab und lässt mit Jersey schneidern, ein Stoff, der bislang nur bei Herren-Unterwäsche zum Einsatz kommt. Es heißt, Chanel habe auch das Kleine Schwarze erfunden, wobei da die Meinungen auseinandergehen.
Wegen ihrer Verstrickungen und Affären mit Nazi-Militärs während des Zweiten Weltkriegs steht Chanel heute in der Kritik. Sie versuchte, sich am enteigneten Besitz von Jüdinnen und Juden zu bereichern. Es gibt auch den Vorwurf des Antisemitismus. „Sie war dennoch sehr einflussreich für den französischen Stil“, sagt Modebloggerin Guinut. Eine echte Stilikone eben, wie es in Frankreich etliche gibt, später etwa Kult-Sängerin Brigitte Bardot oder der französische Modeschöpfer Yves Saint Laurent.
Mode ist vergänglich. Stil niemals.
Coco Chanel, Modeschöpferin
Auf der rive gauche, der linken Uferseite der Seine, geht der Spaziergang weiter. Durch das intellektuelle Quartier Latin weiter in den Südosten von Paris bis ins 13. Arrondissement, einen ehemaligen Industrievorort. Entlang der Bièvre, einem Nebenfluss der Seine, siedelten sich Schuhmacher, Wäscher, Gerber, Weber und Färber an. Die Gobelins-Manufaktur stellt dort seit mehr als vier Jahrhunderten Wandteppiche für französische Paläste – historische wie moderne – her.
Im Möbellager französischer Präsidenten: Napoleons Thron
Auf dem Areal der Gobelins errichtete der berühmte Architekt August Perret 1936 ein Gebäude, um neben den wertvollen Wandteppichen der französischen Regenten auch deren Möbelstücke aufzubewahren. Das brutalistische Gebäude dieser Behörde, das Mobilier National, ist selbst von einer eindrücklichen Architektur. Die beträchtliche Sammlung antiker Kunstwerke darin überrascht trotzdem.
Mehr als 100.000 Möbelstücke lagert der französische Staat hier. Die vier Wände eines riesigen Lagerraums säumen etliche Regalmeter, darin hübsch säuberlich aufgereiht Schemel, Sessel, Chaiselongues, Leuchten. Das älteste Möbelstück reicht bis ins Jahr 1715 zurück, auf wuchtige Barock-Kommoden folgt geometrischer Klassizismus, der Plüsch und Samt des Second Empire weicht Neorokoko und schließlich Plexiglas-Nachkriegsmoderne. Eines der bedeutendsten Möbelstücke im Saal, halb verdeckt von einer Plastikfolie und auf dem untersten Regalbrett versteckt: der Thron Napoleon Bonapartes. Roter Samt, die güldene Rückenlehne rund, so wie es für die Zeit üblich war, erklärt Mitarbeiterin Solenn Pieau.
„Präsident Macron wählt sich hier seine Möbel aus“
Die Mission des Mobilier National sei es, die historischen Möbel nach Möglichkeit der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Eine ganz konkrete Maßnahme, um den französischen Stil als öffentliches Kulturgut zu festigen. Seit 1964 forcierte der damalige Kulturminister André Malraux, einer der bedeutendsten Intellektuellen Frankreichs und enger Freund von Charles des Gaulles, die Förderung zeitgenössischer französischer Designer. Damit wollte und will der Staat modernen französischen Stil fördern und an das Prestige Louis XIV. oder des Empires anknüpfen. Seit den 1960er-Jahren haben Designerinnen und Designer über 600 Möbelstücke für den französischen Staat gestaltet und gebaut. Über die Jahre ist hier ein stilistisches Gedächtnis dieser Nation entstanden.
Als etwa der Ministerrat 2022 einen neuen Tisch benötigte, rief Macron über das Mobilier National einen Wettbewerb aus. Ein Team aus jungen französischen Designerinnen und Designern setzte sich mit einem Entwurf durch, der Medulla heißt – Lateinisch für Knochenmark. Une table pour la Republic lautet das bescheidene Fazit. 13,40 Meter lang, Stahlbeton und messing-güldene Details: das zum Möbelstück gewordene Nervensystem Frankreichs. An der Spitze des Staates steht ein Mann, der viel investiert, um Frankreich als Design-Epizentrum Europas zu bewahren. Das Mobilier National, das Möbellager der französischen Bourgeoisie, macht die enge Verbindung von Ästhetik und Politik deutlich.
Die aktuelle Chefin des Mobilier National ist Frankreichs Kulturministerin Rachida Dati, eine der prominentesten Politikerinnen der rechten Républicains. Sie sei mit Präsident Macron en bonne entente, in gutem Einvernehmen, erfährt man hier. Macron komme regelmäßig her, um Stücke aus der Sammlung für sein Zuhause auszuwählen, ergänzt Pieau. „Emmanuel Macron hat einen sehr modernen Geschmack.“ Und einen dezidiert französischen obendrein.
Der Präsident im dunkelblauen Anzug, dunkler Krawatte, weißem Hemd und schwarzen Lederschuhen: Als Anfang Juni der US-Präsident Joe Biden samt Gattin zum Staatsbesuch nach Frankreich kam, sah der französische Präsident aus, wie Politiker das eben so tun, wenn Gäste aus dem Ausland geladen sind. Biden hingegen trug einen Anzug mit Nadelstreifen und eine blaue Krawatte. Auf den ersten Blick gewagter als sein französischer Kollege, doch bei Macrons Stil, es zieht sich wirklich durch die französische Gesellschaft, sind es die Details, die den Auftritt abrunden.
Stylistin: „Macron geht mit seinem Kleidungsstil zu sehr auf Nummer sicher“
Denn Macron, so scheint es zumindest, achtet auf sein Äußeres. Wer ein wenig nachforscht, landet schnell auf dem Social-Media-Profil von Soazig de la Moissonnière. Sie ist seit 2017 die offizielle Fotografin des französischen Präsidenten und gewährt auf ihrem Kanal Einblicke aus dem Alltag Macrons. Beim Unterlagen-Lesen im Flugzeug trägt er einen Kapuzen-Pulli und ein Poloshirt, auf dem Weg nach Brasilien streift er sich das Trikot der Nationalmannschaft über, dort angekommen spaziert er im Partnerlook mit Präsident Lula im weißen Hemd durch den Dschungel.
Macron, der immer wieder mit dem Ruf des Präsidenten der Reichen zu kämpfen hat, trägt keine pompöse Uhr. Nur ein Ring, der aus drei ineinander verschlungenen Ringen besteht und für Liebe, Treue und Freundschaft stehen soll, ziert seinen rechten Ringfinger. Der Ring ist von Cartier, einer französischen Luxusmarke, die seit 1997 zur Schweizer Richemont-Gruppe gehört. Den linken Ringfinger schmückt sein Ehering. Der Präsident, so scheint es zumindest, weiß, wie er sich dem Anlass entsprechend zu kleiden hat. Wie bewertet jedoch Stylistin Guinut den Kleidungsstil Macrons?
Zurück im Stadtviertel Marais, mittlerweile in einem Café. „Mit seinem Kleidungsstil geht er zu sehr auf Nummer sicher“, sagt Guinut. Sie würde sich etwas mehr Risiko bei den Outfits des Präsidenten wünschen. In Frankreich sei der Kleidungsstil Macrons kein großes Thema. Auch den Stil der französischen First Lady, Brigitte Macron, schätzt Guinut als „eher fad“ ein.
Expertin gibt Tipps für einen authentischen Pariser Look
Ganz so einfach ist es also nicht mit dem Pariser Look. Doch die Stilberaterin hat Tipps für den richtigen Auftritt in Frankreichs Hauptstadt. Dezente Farben, simple Kleidungsstücke, kombiniert mit Accessoires… das sei im Grundsatz sehr französisch, sagt Guinut. „Auch der rote Lippenstift ist immer noch ein Thema.“ Wobei sie sich nicht sicher sei, ob das für die jüngere Generation auch noch gelte.
Ihren Kundinnen und Kunden empfehle sie oft, mit Gegensätzen zu spielen. Ein bisschen verspielt dürfe das Outfit sowieso sein, findet die Beraterin. Maskulin und feminin, das schließe sich nicht aus. „Auch Sneaker sind überhaupt kein No-Go mehr“, sagt Guinut. Wichtig sei dann nur, die Schuhe gekonnt zu kombinieren – mit einem eleganten Kleidungsstück zum Beispiel. Die Französinnen und Franzosen würden das Understatement durchaus schätzen. Dazu gehöre auch, die Haare mal etwas natürlicher zu belassen.
Mit Regelbrüchen und Sinnlichkeit zum „French Chic“
Eine abschließende Definition, was denn nun den französischen Stil ausmache, kann die Mode-Expertin nicht geben. Vielleicht ist es ja gerade das Unergründliche, das Sinnliche, das wir am Stil unserer Nachbarn so bewundern. Die Freiheit, mit Regeln zu brechen und seinen eigenen Look zu entwickeln. Je ne sais quoi, wie die Französinnen und Franzosen sagen: das gewisse Etwas eben.
Dieser Text ist Teil der AZ-Sommerreihe „Lernen von den Nachbarn“. Alle weiteren Artikel finden Sie hier.