Sie möchte jetzt nur noch erzählen, wozu sie Lust hat, sagt die namenlose Ich-Erzählerin an einer Stelle. Genau das macht sie: Sie erzählt von ihrer zerstörerischen Ehe mit Vilhelm, von den erholsamen Aufenthalten in der Psychiatrie und von ihrer Sehnsucht nach dem Tod. Nicht unbedingt neue Themen, wenn man Tove Ditlevsens Werk kennt. Dennoch zeigt sie sich in ihrem letzten Roman noch einmal von einer anderen Seite. Über eine unterschätzte Autorin, der erst lange nach ihrem Tod in den vergangenen Jahren ihr verdienter Ruhm zuteilwurde.
Vilhelms Zimmer ist leer. Nach über 20 Jahren Ehe, in der sich die beiden Partner mehr bekriegten als unterstützten und doch nie voneinander loskamen, ist er tatsächlich ausgezogen. Zu einer seiner Affären, dem Hausmädchen. Weil die Erzählerin Lise Mundus das Zimmer nicht leer stehen lassen will, sucht sie noch aus der Psychiatrie heraus über eine Kontaktanzeige einen geeigneten Nachfolger. Das nicht irgendwo, sondern in der Zeitung, die ihr Ehemann leitet. Ihre Wohnung bleibt der Hauptschauplatz der Geschichte, in der die Erzählerin ihre Ehe, die Leidenschaft und das Umschlagen in gegenseitigen Hass seziert. Und das mit der für Ditlevsen typischen, klaren, bildreichen und trotz der düsteren Themen humorvollen Sprache. In ihrem letzten Roman ist sie dabei kühner als zuvor, lässt beispielsweise den Nachmieter Kurt einfach aus dem Buch fallen, als sie ihn für die Geschichte nicht mehr braucht.
Tove Ditlevsen schöpft aus ihrem eigenen Leben
„Formal ist es ihr aufregendstes Buch“, findet die Literaturvermittlerin und Initiatorin der Kampagne „#tovelesen“ Maria-Christina Piwowarski. In ihrem letzten Roman vermengt Ditlevsen in mehrerer Hinsicht die Ebenen: Sie wechselt von einer Ich-Erzählerin, die fast geisterhaft über der Handlung schwebt, in die dritte Person der Lise Mundus, die die Geschichte aus ihrer Perspektive erzählt – manchmal innerhalb eines Satzes. Sie spielt mit Fiktion und Realität, greift der Realität teilweise sogar voraus, wie man in dem erhellenden Nachwort der Übersetzerin Ursel Allenstein nachlesen kann.
Vilhelm und Lise sind angelehnt an die Autorin selbst und ihren langjährigen Ehepartner Victor Andreasen, den Chefredakteur einer großen dänischen Boulevardzeitung. Auch die besagte Hochzeitsannonce hat Ditlevsen tatsächlich aufgegeben und sorgte damit für einen Medienrummel. Sie scheint die Realität geradezu vorwegzunehmen: Die Vorbereitungen für ihren Suizid versetzen Lise Mundus im Buch regelrecht in Euphorie, was man auch deshalb mit Beklemmung liest, weil Ditlevsen ihrem Leben ein Jahr nach Erscheinen des Romans in Dänemark im Jahr 1975 ein Ende setzte.
Erst 2021 wurden ihre Werke international bekannt
Einem internationalen Publikum wurde sie erst Jahrzehnte nach ihrem Tod bekannt. 2021 erschien in Deutschland die viel gefeierte Kopenhagen-Trilogie mit den Bänden „Kindheit“, „Jugend“ und „Abhängigkeit“. Darin erzählt Ditlevsen vom Aufwachsen im Armenviertel Kopenhagens Anfang des 20. Jahrhunderts, vom schwierigen Verhältnis zu ihrer Mutter und dem unbedingten Wunsch, Autorin zu werden. Sie erzählt von der Emanzipation aus ihrem Milieu, von ihren vier Ehen und der Suche nach ihrem Platz in der Welt als Frau und als Schriftstellerin. Und sie erzählt von der Sucht, dem Rausch und der Abhängigkeit. Auf die Trilogie folgten der Erzählband „Böses Glück“ und der Roman „Gesichter“.
Ditlevsen bedient sich beim Schreiben der Erlebnisse aus ihrem Leben. „Schreiben heißt, sich selbst auszuliefern“, hat sie einmal gesagt. Ihre autofiktionalen Werke gelten heute als Vorreiter für Schriftstellerinnen wie Annie Ernaux oder Rachel Cusk. „So zu schreiben war damals noch viel mutiger, als wir uns das heute vorstellen können“, gibt Piwowarski zu Bedenken. Denn Ditlevsen hatte einerseits keine literarischen Vorbilder, auf die sie sich beziehen konnte. Andererseits waren ihre Themen in den 1960er- und 70er-Jahren noch deutlich tabuisierter.
Literatur von Frauen wurde lange Zeit nicht beachtet
Hierin liegt wohl auch der Grund, warum Ditlevsen in Dänemark und international von Kritikern wenig beachtet wurde. Zeitlebens litt sie unter der mangelnden Anerkennung, trotz ihres kommerziellen Erfolgs. „Autorinnen sind im männlichen Literaturbetrieb vergessen gemacht worden“, sagt die Literaturvermittlerin Maria-Christina Piwowarski. Ihre Themen seien nicht als relevante Literatur wahrgenommen worden. In den vergangenen Jahren hat sich das durch die unermüdliche Arbeit von Frauen in der Buchbranche geändert. Zum Glück.
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