Es ist Nacht. Die Zeit, in der die Welt den Boden verliert, in der alles schwebt, keiner laufen kann und niemand weiß, ob er noch lebt oder schon längst tot ist. Absolute REM-Schlaf-Phase, Hochkonjunktur für das Kopfkino. Wenn in einem Moment wie diesem das Telefon klingelt, fühlt sich das an, als würde jemand deine persönliche Leinwand zerreißen. Zuerst nimmt man es gar nicht wahr, dann schwillt es an, wird lauter, fast bedrohlich. Zehnmal oder mehr, penetrant. Es ist 3.20 Uhr. Welcher Idiot ...? Halb bewusstlos und in Erwartung einer Hiobsbotschaft taumele ich die Treppen hinunter, taste in der Dunkelheit nach dem Hörer: Hallo? „Hi, this is Tom Waits!“
Tom Waits‘ Sprechstimme war rau und markant
So hat es sich tatsächlich zugetragen, vor 22 Jahren. Der Leibhaftige persönlich hatte angerufen. Warum aber ausgerechnet mich? Einige Jahre zuvor hatte ich mich um ein Interview mit ihm beworben, was an sich schon ein ziemlich naives Unterfangen schien. Ich hatte die Sache auch längst wieder vergessen. Bis Mr. Waits an diesem Freitagmorgen gerade in seinem Haus in Sonoma County/Kalifornien herumgesessen haben muss, sich offenbar langweilte und ein bisschen Gott spielen wollte – oder Teufel. Wen würde es nach seiner schaurig realen Verkörperung des Mr. Nick in Terry Gilliams „Das Kabinett des Dr. Parnassus“ von 2009 wundern? Also tippte er bei seinen E-Mails einfach irgendwo hin. Ich hatte in meinem Leben noch nie etwas gewonnen. Doch das hier glich einem Sechser mit Zusatzzahl. Weil es, wie ich Jahre später erfahren sollte, angeblich eines der letzten Interviews sein sollte, das Tom Waits einem Journalisten bis heute gegeben hat – einige Talkshow-Auftritt bei Letterman und Co. ausgenommen.
Wut und Adrenalin ergeben einen gefährlichen Cocktail. „Postpubertärer Schwachsinn“, zischte ich und erntete ein ratloses Seufzen. „Mmmh. Can you hear me? Tom here.“ Knacken in der Leitung. „Dachte, es wäre vielleicht mal eine interessante Erfahrung … mmmh (Räuspern) … wenn ich dich mal anrufe.“ Vor dem geistigen Auge liefen Namen und Köpfe von potenziellen Nervensägen von links nach rechts, bis sich die Stimme wieder meldete, diesmal schon leicht angepisst: „Möchtest Du mich jetzt interviewen oder nicht?“ Plötzlich war ich hellwach. Da drang kein Knurren, kein Nuscheln, kein Lallen durch die Leitung. Seine Sprechstimme war rau, markant, aber weit entfernt von den kabarettistischen Extremen seiner Platten und Filme. Allerdings fiel mir ein: Interviews waren für ihn schon immer überflüssige, manchmal auch Angst einflößende Befragungen.
Die Wahrheit wird weitgehend überschätzt, findet Tom Waits
Deshalb auch sein Versprechen, dass er hin und wieder die Unwahrheit sagen werde. Meine Aufgabe sei es eben, dies zu erkennen. Aha! Tom Waits wollte noch einmal das „Press Game“ (O-Ton) spielen, nach seinen Regeln. Also erzählte er Geschichten, bei denen keiner mehr wusste, was nun eine Metapher war, eine Blendgranate, ein Ablenkungsmanöver, ein Witz, eine unverschämte Lüge oder eine falsche Fährte. An diesem Tag blieb vor allem das in Erinnerung: In seinem Garten haben Breschnew und Reagan den Kalten Krieg verhandelt (finde den Fehler!). Er kann Hühner hypnotisieren und hat als Kind eine Schere verschluckt (deshalb die Stimme). Jedes Interview war eine Stand-up-Performance, in denen Frager ihre Rolle möglichst genauso gut zu spielen hatten – auch jetzt. Man giert irgendwann nach diesem Füllhorn von abstrusen Anekdoten, weil sie mit voller Absicht so sind, wie sie sind, nämlich echte Kunst. Denn die Wahrheit, sagte Waits damals, werde sowieso weitgehend überschätzt.
Das Interview glich eher einer Therapiesitzung. Er gefiel sich als multiple Persönlichkeit, eine subtile Variante von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Ein Kauz, dem die unter der Staubschicht hellstrahlende Armada von schräger, wunderbarer Musik längst nicht mehr ausreichte. Also arbeitete er Ende der 1980er-Jahre mit dem Theaterregisseur Robert Wilson zusammen. Außerdem raute er Filme wie „Die Outsider“, „Bram Stoker’s Dracula“ (alle von Francis Ford Coppola), „Down By Law“ (Regie Jim Jarmusch, Waits schrieb am Drehbuch mit) oder „Short Cuts“ von Robert Altmann auf. Keine Rollen für einen Brad Pitt oder Leonardo DiCaprio. Aber jeder Streifen, in dem er mitspielte, hatte diese besondere, aseptische, unauslöschliche Aura.
Tom Waits wird an diesem 7. Dezember 2024 nun 75 Jahre alt
An diesem Samstag, 7. Dezember, wird Thomas Allan Waits 75. Längst gilt er als einer der größten lebenden Künstler – abseits des Mainstreams. Ein Phänomen und Phantom, um das sich umso mehr Mythen ranken, je mehr Jahre ins Land streichen. 13 sind es mittlerweile seit seinem bislang letzten Studioalbum „Bad As Me“, sein letztes Konzert fand 2013 im niederländischen Aalsmeer statt. Zwischen seinen Auftritten und seiner Privatsphäre zieht er einen eisernen Vorhang. Seit mehr als 44 Jahren lebt Tom Waits in bürgerlichen, ruhigen Verhältnissen, hat mit Kathleen Brennan drei Kinder großgezogen. Sein öffentliches Bild stammt aus den 1970er-Jahren, als er mit seiner damaligen großen Liebe Rickie Lee Jones um die Häuser zog, der Alkohol sein zweitbester Freund war, er sich in der Rolle des Troubadours der Trunksucht gefiel und in einem billigen Motel in Los Angeles hauste. Damals schrieb er Lieder, die von all den Namenlosen im Straßengraben der Wohlstandsgesellschaft erzählten und begann im Suff systematisch seine Stimme zu zerstören, die später sein Markenzeichen wurde.
Lange war er stets bemüht, nicht Sklave seines Erfolges zu werden, indem er den Vaudeville-Waits, den Polka-Waits, den Brecht-Weill-Waits, den Chanson-Waits, den Punk-Waits, den Grunge-Waits hinzuerfand. In nahezu allen Rumpelkammern der Musik trieb er sich herum und verließ seine Eremitage zuletzt nur für Filme, auf die er Lust hatte. 2019 mimte er den Einsiedler-Bob in Jim Jarmuschs Zombie-Movie „The Dead Donʼt Die“ (mit Bill Murray, Iggy Pop und Selena Gomez), 2021 kam „Licorice Pizza“ an der Seite von Sean Penn dazu. Seit Jahren wabern immer wieder Gerüchte über ein neues Album und eine Welttournee für 2025 durch eine Szene, der zunehmend die Helden ausgehen. Derweil kann man sich gut vorstellen, wie Tom Waits dasitzt und sein 1975 entstandenes, beißendes „Happy Birthday“ grummelt: „Der Himmel ist schwarz, die Kinder weinen. Alles Gute zum Geburtstag. Es ist mein schlimmster Tag.“ Wirklich? Oder wieder nur die Story vom Pferd?
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