Jeder weiß, dass das Leben ein großer Kreis ist. Nur merken es die wenigsten, selbst wenn sie wieder dorthin gelangen, wo alles begann. Tim Allhoff ist die Ausnahme dieser Regel. Längst gehört der gebürtige Augsburger zu den angesagtesten Pianisten der Republik, kann sich vor Engagements und Kompositionsaufträgen kaum retten und sorgte erst kürzlich wieder für Schlagzeilen, als er beim Weltwirtschaftsforum in Davos seine eigene Musik für das Eröffnungskonzert mit großem Orchester aufführte. Das Treffen der Wichtigen und Mächtigen – und er war mittendrin (mit Selfie).
Kein Zweifel: Tim Allhoff hat es geschafft, der unscheinbare Junge, der einst den musischen Zweig des St. Stephan Gymnasiums in seiner Heimatstadt besuchte, aber sich nie als Wunderkind hervortat, flitzt die Karriereleiter im atemberaubenden Tempo nach oben. Also ein Promi? Vielleicht. In seinem angestammten Metier „Jazz“ ist so etwas normalerweise nicht möglich. Das Geheimnis liegt darin, dass Allhoff nach neun jazzaffinen Alben einen radikalen U-Turn zurück zur Klassik vollzogen hat, an den Anfang seines musikalischen Weges, zur Musik von Johann Sebastian Bach. Der erfolgreiche Jazzpianist geht fremd. Der Grund dafür liegt in seiner Kindheit: Da bekam er die Leidenschaft für Bach eingepflanzt. Sie war und ist eine der größten Inspirationsquellen seines Schaffens.
Tim Allhoff berührt mit seinem neuen Soloalbum
Das ist zu hören. Bach berührt bei Allhoff und erlaubt ihm, einen emotionalen roten Faden zu knüpfen. So entsteht für sein zehntes Werk „Bach“ (Berlin Classics/Edel Kultur) eine persönliche Auswahl von 18 Einzelsätzen aus dem Kosmos des Barockmeisters. Deshalb wäre es besser, das Album eine bunte Playlist zu nennen, die aus Klaviersätzen aus dem „Wohltemperierten Klavier“ besteht, den großen Cembalosuiten, zwei Choralvorspielen, angereichert mit Transkriptionen von Vokalsätzen aus der „Matthäus-Passion“ sowie langsamen Sätzen aus einer Flötensonate und dem Cembalokonzert in g-Moll. All dies ohne jede improvisatorische Zutat. „Tatsächlich gibt es ein paar Stücke, die zählen zu meinen persönlichen All-Time-Favourites, die wollte ich auf jeden Fall dabeihaben“, erinnert sich der 45-Jährige. „Es gab andere Stücke, für die es noch keine Klavierbearbeitung gab. Da habe ich selbst Transkriptionen geschrieben. Ich hatte viel zu viel Musik und habe nach und nach gestrichen. Im Endeffekt sind es die persönlichen Diamanten, die übrig bleiben durften.“
Normalerweise versuchen Jazz-Menschen, dem formstrengen Korsett der Klassik zu entfliehen. Bei Allhoff ist es umgekehrt. „Eigentlich war die Klassik immer da. Aber ich hab's nie versucht.“ Der Jazz stand ihm näher, die Transformation geriet schleichend. Der Mann am Klavier vermutet, dass dies mit seinem immer stärker werdenden Drang zum Solospiel zusammenhängen könnte. Man spürt dies einige Male während seiner sanften, klar artikulierten, bisweilen pathetisch aufbrausenden Traumreise durch die Innenwelten Bachs. Dabei fokussiert sich Tim Allhoff vor allem auf den vokalen Duktus, der den zutiefst menschlichen Ausdruck aus den strengen Strukturen heraus destilliert. Es ist ein moderner, überraschender Bach; respektvoll, voller Liebe und ernstem Pathos.
Die Werke von Bach sollen für sich sprechen
Natürlich wäre es dankbar und vielleicht auch billig, Bach zu verjazzen, wie dies Jacques Loussier, Dave Brubeck oder Joachim Kühn erfolgreich taten. „Da ist so viel drin, allein die ganze Funktionsharmonik“, schwärmt Allhoff. „Das swingt alles von selbst.“ Aber sollte man die Werke nicht besser für sich sprechen lassen? Der Augsburger weiß es längst: „Das Einzigartige an Bach ist diese Balance aus totaler Freiheit und maximaler Stringenz. Viele seiner Werke beginnen mit improvisatorisch wirkenden Passagen, die zeigen, wie frei er mit musikalischen Ideen umgehen konnte.“ Obwohl er detaillierte Notationen seiner Werke hinterließ, eröffnen sich jedem nahezu unendliche interpretatorische Spielräume.
Bliebe noch die Frage, was Allhoff nun ist: ein klassischer oder ein Jazzpianist? „Ein Pianist“, lächelt er und lässt die Antwort ein paar Sekunden stehen. „Immer häufiger Arrangeur und Komponist. Auch das hat sich bei mir verändert.“ Musik wird nach seinem Geschmack zu schnell in Schubladen abgelegt, dabei seien die Grenzen fließend. Jazz ist für ihn noch längst kein Artefakt aus der Vergangenheit, sondern irgendwie-irgendwo immer präsent. „Bei meinen Solokonzerten ist nach wie vor beides dabei. Das möchte ich mir nicht nehmen lassen. Das Spektrum reicht von Bach über Brahms bis zu Bill Evans, Billie Eilish und Radiohead. Ich schließe nicht aus, dass ich irgendwann wieder ein Jazzalbum aufnehme.“ Bei dem Meister Bach sicher auch seine Finger mit im Spiel haben dürfte.
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