Zugegeben: Ich hatte Bedenken, als kurz vor seiner Veröffentlichung bekannt gegeben wurde, dass Taylor Swifts "The Tortured Poets Department" erneut in Zusammenarbeit mit Superproduzent Jack Antonoff und The-National-Gitarrist Aaron Dessner entstanden war. Sicher: Beide hatten Swifts Musik in der Vergangenheit gut getan. Man denke an die beiden Pandemie-Alben "Folklore" und "Evermore", man denke an "Midnights", man denke aber auch an die "Ten-Minute-Version" von "All Too Well", dem Heiligen Gral unter den Swift’schen Breakup-Songs. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass es für Swift mittlerweile Zeit war, neue künstlerische Liaisons einzugehen, um sich selbst zu pushen und ein Stück weit neu zu erfinden – so wie vor 12 Jahren, als sie Max Martin mit ins Boot geholt hatte und sie ihre erste Albumgroßtat "Red" schuf.
"The Tortured Poets Department" wurde nun aber in einer Zeit geschrieben und eingespielt, in der die arbeitswütige Swift selbst für ihre Verhältnisse unerhört viel um die Ohren hatte: Die phänomenal erfolgreiche, gewiss strapaziöse "Eras Tour" lief, ihre sechsjährige Beziehung zum britischen Schauspieler Joe Alwyn brach auseinander, die kurze Romanze mit dem The-1975-Frontmann Matty Healy erwies sich als schmerzliche Sackgasse. Dass sie ihr neues Album mit bewährten, ihr schon seit Jahren freundschaftlich verbundenen Mitstreitern aufnehmen wollte, ist somit nur allzu verständlich.
"The Tortured Poets Department" klingt erwartbar nach Swift und Antonoff
Doch wie klingt das Album? Nun ja, wie man es erwartet hat – das heißt: wie ein Taylor-Swift-Album, bei dem der Meisterin Antonoff und Dessner zu Seite standen. Überraschendes? Fehlanzeige. Stattdessen Synth-Poppiges, Keyboardflächen, verhallte Computerdrums, hier und da eine Gitarre und darüber Swifts unverkennbarer, Nähe evozierender gehauchter Gesang. "Midnights", vor allem aber die Vault-Tracks von "1989 (Taylor’s Version)" lassen grüßen. Aber muss man deswegen enttäuscht sein? Natürlich nicht! Vielmehr sollte man sich fragen, warum man sich Neues gewünscht hat, obgleich das Bewährte doch so überzeugend ist. Never change a winning team: "The Tortured Poets Department" bestätigt diese Binsenweisheit, die sich einem im vorliegenden Fall erst recht mit guten Kopfhörern beziehungsweise Lautsprechern erschließt.
Mit wenigen Ausnahmen, etwa dem quirligen "I Can Do It With a Broken Heart", wird "The Tortured Poets Department" von ruhigen Down- und Midtempo-Songs dominiert. Die meisten von ihnen sind mit einem gehörigen Schuss Melancholie versehen. Exemplarisch dafür steht gleich am Anfang "Fortnight", die schleichende Leadsingle des Albums. Für deren sichtlich ambitioniertes, aufwendig gestaltetes Video stand der Arthouse-Kinohit "Poor Things" Pate. Dass in dem Clip die Schauspieler Ethan Hawke und Josh Charles zu sehen sind, erschließt sich einem sofort. Immerhin erlangten beide mit Peter Weirs "Dead Poets Society" Berühmtheit.
Joe Alwyn und Matty Healy geraten unter Taylor Swifts Skalpell
Bei "Fortnight" handelt es sich um ein Duett mit Post Malone, der erst kürzlich von Beyoncé für deren Album "Cowboy Carter" rekrutiert worden war und hier wie dort seine Sache ausgesprochen gut macht. Dass der Song ein Hit werden wird, steht außer Frage, mögen ihm die evidenten Hit-Qualitäten ikonisch gewordener Swift-Singles wie "We Are Never Ever Getting Back Together", "Shake It Off" oder "Anti-Hero" auch komplett abgehen. Letzteres gilt im Übrigen für alle anderen Songs des Albums auch. Doch das kennen wir von Swift, die bereits mit "Folklore" und "Evermore" bewies, dass sie keiner zugkräftigen Leadsingle bedarf, damit ihre Platten kommerziell durch die Decke gehen. Denn Radio-Airplay hat sie längst nicht mehr nötig. Auch das beweist "The Tortured Poets Department" zur Genüge, das am Tag seines Erscheinens fast 318 Millionen Mal auf Spotify gestreamt wurde – so viel wie kein Album je zuvor. Zum Vergleich: "Cowboy Carter" von Beyoncé, das das bis dahin beste Streaming-Opening im laufenden Jahr hingelegt hatte, brachte es "nur" auf 76 Millionen.
"The Tortured Poets Department" ist ein mustergültiges Konzept-, genauer ein Trennungsalbum und als ein solches durchaus ungewöhnlich. Denn gleich zwei Beziehungen beziehungsweise Beziehungsenden werden verhandelt, gleich zwei Expartner, Alwyn und Healy, geraten unter das Skalpell der auch textlich wieder einmal zu großer Form auflaufenden Beziehungsanatomin Taylor Swift. Dass Healy, der ihr im wunderbaren "The Smallest Man Who Ever Lived", aber auch in "I Can Fix Him (No Really I Can)" und "Guilty as Sin?" als Muse diente, hierbei entschieden öfter und insgesamt wohl auch stärker zu leiden hat als Alwyn, kam für die Fans einigermaßen überraschend. Doch immerhin: Unter die sechs Jahre an der Seite des Schauspielers Alwyn zieht Swift mit dem bei ihr stets mit besonderer Bedeutung aufgeladenen Track 5 einen Strich, dem sonoren, todtraurigen "So Long, London".
Auch Travis Kelce ist auf "The Tortured Poets Department" verewigt
Allerdings bekommen nicht nur ihre beiden Ex-Partner ihr Fett weg, sondern auch jene übergriffigen Fans, die meinten, die Beendigung ihres Verhältnisses mit Healy per Petition einfordern zu können. Sie finden sich in "But Daddy I Love Him" als Schlangen ("vipers dressed in empath’s clothing") und Fieslinge ("judgmental creeps") verewigt. Doch wo bleibt der Football-Star Travis Kelce, wo bleibt Swifts derzeitiger Boyfriend? Man muss sich ziemlich gedulden, denn erst im vorletzten Song, dem an Football-Anspielungen reichen, musikalisch sich etwas müde voranschleppenden "The Alchemy", schlägt seine Stunde.
Im mittlerweile auf elf Alben angewachsenen Swift-Kanon bildet "The Tortured Poets Department" mit seinen 16 Tracks, denen Swift unmittelbar nach Veröffentlichung noch sage und schreibe 15 Bonus-Tracks an die Seite stellte, weder einen Wende- noch einen Höhepunkt. Im Gegensatz zu Meisterwerken wie "Red", "1989" oder "Lover" handelt es sich bei ihm schlicht und ergreifend um ein weiteres rundum gelungenes Taylor-Swift-Album – zugleich aber auch um Swifts bislang entschiedenste Weigerung, das zu tun, was Frauen im Popbusiness für gewöhnlich abverlangt wird: sich mit jedem Longplayer neu zu erfinden.
Zum Autor: Jörn Glasenapp, geboren 1970 in Hannover, ist ein deutscher Kulturwissenschaftler. Er ist Inhaber des Lehrstuhls "Literatur und Medien" am Institut für Germanistik der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Glasenapp ist bekennender Taylor-Swift-Fan und zugleich Experte für ihr Werk. Im Buch "Taylor Swift. 100 Seiten" (Reclam-Verlag) erklärt er ihren Ruhm, ihre Kunst und die Begeisterung, die sie mit ihrer Musik entfacht.