Über den Sinn der Monarchie wird gerne und leidenschaftlich gestritten. Sie sei ein Anachronismus, ein Überbleibsel aus der Hochzeit der Dekadenz oder ein Steuern verschlingendes, krankes Monster aus dem Schattenreich, sagen die einen. Die anderen halten sie für einen Segen, gerade jetzt – gerade für Netflix. Denn wenn ab dem heutigen Mittwoch endlich die fünfte Staffel von "The Crown" im Internet abrufbar ist, dann klingeln dort wieder die Kassen. Millionen von Menschen scharren schon seit Monaten mit den Hufen ob der Ungeheuerlichkeiten, die sich die Macher da ausgedacht haben könnten.
Der Netflix-Hit "The Crown" meldet sich mit neuen Folgen zurück
Jeder kennt die Geschichtchen aus bunten Blättchen, die beim Friseur oder beim Hausarzt herumliegen. Die gläserne Königsfamilie. Oder: Wer mit oder ohne wem, was trägt sie oder er, wie viel kostet es (kann sich das eine "normale" Frau leisten?), wie viele Sekunden lächelt Kate (wann lächelt sie eigentlich nicht?), wie lange brauchte Harry, um bei seiner im Sterben liegenden Oma auf Schloss Balmoral zu sein (er kam natürlich zu spät!)? Solche Fragen scheinen die Menschen mindestens so stark zu bewegen wie die russischen Gräueltaten in Butscha oder die Midterm-Wahl in den USA. Verkehrte Welt?
Tatsächlich ist vieles davon wirklich so passiert. Der Erfolg der mithin erfolgreichsten Streaming-Seifenoper von Netflix liegt jedoch in einer raffinierten Verzahnung von Realität und Fiktion, den Chefautor und Produzent Peter Morgan einmal mehr höchst virtuos komponiert hat. In der Tat spielten beide Faktoren noch nie traumwandlerischer miteinander Doppelpass als in der fünften Auflage von "The Crown". Und manchmal hilft auch die Wirklichkeit, mit einer Fernsehserie ein Erdbeben auszulösen.
Skandale über Skandale: Die Realität überholt "The Crown"
Gerade erst wurde die Queen zu Grabe getragen, Charles sitzt auf dem Thron, daneben seine Queen Consort Camilla. Es kann kein Zufall sein, dass just in diesem Moment der unglückselige Prinz Harry, getrieben von Meghan, im fernen Kalifornien ein "schonungsloses Enthüllungsbuch" (Titel: "Reserve") ankündigt. Und die Realität präsentiert den nächsten Handlungsstrang: Eine Tory-Hinterbänklerin und ein indisch-stämmiger Millionär dürfen Premierminister spielen und einen drolligen, blonden Luftikus, der zuvor England aus der EU kickte, beerben. Prinz Andrew verliert nach dem Epstein-Skandal nicht nur seine royalen Aufgaben, sondern auch den Rückhalt in der Familie. Ach, wie traumhaft wäre es, all das schon jetzt verfilmen zu können. Doch dazu wird es wohl nicht mehr kommen. Die Geschichte von "The Crown" und der Königin soll angeblich nach Staffel sechs (mit dem Unfalltod Dianas) enden. Abwarten …
Der Rosenkrieg zwischen Charles und Diana entbrennt
Nun ist aber erst Nummer fünf dran. Die dreht sich um die 90er-Jahre, eines der schlimmsten Jahrzehnte für das britische Königshaus. Nicht nur die Ehe von Charles und Diana liegt in Scherben, auch bei zwei anderen Königskindern kriselt es, Schloss Windsor brennt, die Briten haben allmählich die Schnauze von der Monarchie voll, die immer mehr zur royalen Muppet Show verkommt. Die Queen nennt in ihrer Rede zum 40. Thronjubiläum 1992 das "Annus horribilis", das Schreckensjahr. Die Windsors stecken knöcheltief in der Gülle. Und das ist erst der Anfang.
Natürlich geht es vor allem um den Rosenkrieg zwischen Charles und Diana, den mithin fettesten Happen für jeden Filmemacher. Muss Peter Morgan hier überhaupt noch etwas fiktional zuspitzen, was die echte Truppe im Buckingham-Palast nicht schon verschwenderisch als Vorlage lieferte? Bereits in Staffel vier brauten sich Gewitterwolken am Firmament zusammen, als Charles, damals noch verkörpert von Josh OʼConnor, den ultimativen Drecksack gab, die arme Diana zusammenstauchte, bloßstellte, sie niedermachte, um so die ihm aufoktroyierte Frau an seiner Seite aus dem Leben zu mobben. Seither weiß es wirklich jeder: Der Buckingham-Palast ist ein zwischenmenschlicher Eisschrank, und die Windsors eine durch und durch dysfunktionale, kaputte, herzlose Familie, deren Mitglieder unfähig sind, sich gegenseitig zu stützen.
Royalisten wie Judi Dench kritisieren "The Crown"
Deshalb stieg bei Royalisten schon Monate vor Staffelstart der Blutdruck. Zunächst wagte sich der frühere konservative Premier John Major in Sorge um sein Bild in der britischen Geschichte aus der Deckung. Major wird darin von Charles – mittlerweile spielt ihn ein wesentlich weicherer, fast irrlichternder, softer Dominik West – gebeten, seine Mutter zur Abdankung zu drängen. "The Crown" sei "ein Haufen Unsinn", das Dargestellte "eine schändliche, boshafte Erfindung", schimpfte Major.
Vorhang, Auftritt Dame Judi Dench, ihres Zeichens britischer Schauspieladel, und befreundet mit Camilla. Die betagte Mimin, bekannt als "M", die Chefin von James Bond, echauffierte sich in der Times, dass vor jeder Folge stehen müsse, dass es sich um ein fiktives Werk handele und nicht um historische Wahrheiten. Ja worum denn sonst? In Wirklichkeit geht es auch darum, wer die Deutungshoheit über die Windsors haben darf: königstreue Briten oder ein Konzern aus Kalifornien? Prinz Williams Empörung schließlich über die Nachverfilmung des Skandalinterviews des BBC-Journalisten Martin Bashir (Prasanna Puwanarajah) 1995 mit Prinzessin Diana kann man noch am ehesten nachvollziehen, wollte er doch die gezielte Manipulation seiner Mutter, die sich darin über ihre kaputte Ehe und ihre seelischen Probleme auslässt, nie wieder thematisiert haben.
Dominik West spielt in Staffel fünf von "The Crown" Prinz Charles
"The Crown" – und das wissen wir spätestens nach der fünften Staffel – will nicht von der Wirklichkeit des Königshauses erzählen, sondern die Wahrheit über Menschen darstellen, die ein Leben führen, in dem sie Gefangene ihrer selbst sind. Hübscher wird das auch durch die Umbesetzungen nicht, die inzwischen nach jeder zweiten Staffel Usus sind. Nun spielt Imelda Staunton (die böse Dolores Umbridge aus den "Harry Potter"-Filmen) mit flackernd verkrampfter Miene und schwach die Queen, als seltsam unroyaler, eher an Juan Carlos erinnernder, zynischer Gemahl Prinz Philip tritt Jonathan Pryce ins Bild. Während die beiden wie auch Charles alias Dominik West bei einem Ähnlichkeitswettbewerb nicht einmal den Trostpreis ergattern würden, kommt Elizabeth Debicki als neue Diana frappierend dem gebrochenen, mitunter maliziösen Original nahe.
Es sind kleinen Sottisen als Bausteine für ein großes Ganzes, die den Reiz ausmachen, mit dem wir die Königssippe langsam verstehen lernen und die "The Crown" immer noch sehenswert macht. Etwa das legendäre Telefonat mit Camilla, bei dem Charles ihr gesteht, viel lieber ihr Tampon zu sein. Oder Boris Jelzin, der bei einem Dinner der Queen rotzbesoffen zuraunt: "Und Sie nennen das hier einen Palast? In Sankt Petersburg haben wir Scheißhäuser, die sind größer."
Viel Dichtung und Wahrheit liefert die neue Staffel von "The Crown"
Fakt oder Fake? Wir konstatieren: Nicht politische Instabilitäten, nicht ein neuer Premierminister, nicht sozialer Unmut und nicht der Brexit fordern das Königshaus in seiner Substanz heraus. Es ist die Medienwelt im 21. Jahrhundert, die die Trennschärfe zwischen Dichtung und Wahrheit zunehmend auf die Probe stellt. Wer fragt da noch, ob das alles ein Märchen oder nichts als die Wahrheit war?