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Tate Modern: Münchens "Blauer Reiter" zieht in London ein

Ausstellung

Kandinsky, Marc und Co.: Münchens "Blue Rider" zieht in London ein

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    Das Tate Modern in London präsentiert den „Blauen Reiter“, darunter auch Wassily Kandinskys „Reitendes Paar“ aus dem Jahr 1906/07.
    Das Tate Modern in London präsentiert den „Blauen Reiter“, darunter auch Wassily Kandinskys „Reitendes Paar“ aus dem Jahr 1906/07. Foto: Lenbachhaus München

    Die Ausstellung war noch gar nicht eröffnet, da gaben sich die Kunstkritiker im Vereinigten Königreich schon „very impressed“, also sehr beeindruckt. Wenn das so weitergeht, wird der gute alte „Blaue Reiter“ in London ein richtiger Erfolg. Ohnehin steht der deutsche Expressionismus derzeit hoch im Kurs: in Washington zum Beispiel mit den Brücke-Leuten, mit Otto Dix oder dem Österreicher Egon Schiele; in Den Haag zieht der „eigenwillige“ Max Beckmann die Besucher an. 

    Dass die Münchner Künstlergruppe um Franz Marc und Wassily Kandinsky nun diesen internationalen Großauftritt hat, ist dagen etwas Besonderes. Die erste und letzte dem „Blue Rider“ gewidmete Schau fand 1960 in der damaligen Tate Gallery statt – als bewusst gesetztes Zeichen der Verständigung und des Austauschs nach dem Zweiten Weltkrieg. Bis auf Solo-Präsentationen der bekanntesten Reiter-Mitglieder war’s das. 

    München besitzt die bedeutendste Sammlung des Blauen Reiters

    Allerdings dürfen die Säulenheiligen des Münchner Lenbachhauses auch nicht ohne Weiteres reisen, schon gar nicht die Highlights. Durch die großzügige Schenkung Gabriele Münters besitzt die Städtische Galerie die bedeutendste Sammlung dieser Kunstpioniere. Sie wird gehegt und gepflegt, und selbst unter der Woche sind die entsprechenden Säle bestens frequentiert. Doch der Deal mit der Londoner Tate Modern war zu verlockend: Turner gegen Blue Rider – den Münchnern hat der englische Romantiker einen Rekord von mehr als 275.000 Besuchern beschert. 

    Das Tate Modern in London präsentiert den Blauen Reiter. Dazu gehört auch Franz Marcs "Kühe. Rot. Grün. Gelb" (1911).
    Das Tate Modern in London präsentiert den Blauen Reiter. Dazu gehört auch Franz Marcs "Kühe. Rot. Grün. Gelb" (1911). Foto: Lenbachhaus München

    Dafür ließ man die 130 Werke von Erma Bossi bis August Macke oder Alexander von Jawlensky noch etwas lieber ziehen. Und nun faszinieren in London die leuchtenden Farben, die je stärker, desto beunruhigender empfunden werden. Zumindest von Jonathan Jones, dem Experten des Guardian. Marianne Werefkins blutrote Augen fallen auf, Wassily Kandinskys giftgrün und violett dominierte Ansicht von Murnau und natürlich Franz Marcs Tiger, der quer durch London auf Plakaten für die Schau wirbt. „The Blue Rider“ und der Expressionismus an sich werden von den britischen Rezensenten im Zusammenhang mit der Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs gesehen, der letztlich zu Nationalsozialismus und Holocaust führen sollte. 

    Die Kuratorin rückt aktuelle Bezüge des "Blauen Reiters" ins Zentrum

    Das Ausstellungsteam um Natalia Sidlina, zuständig für die internationale Kunst an der Tate, setzt vielmehr die aktuellen Bezüge ins Zentrum. Das reicht von der Migration über multiple Identitäten und fließende Sexualitäten bis zu den ethnischen Zugehörigkeiten sowie dem grenzenlosen Experimentieren eines Kollektivs, in dem Männer und Frauen an einem Strang zogen und die Herkunft sowieso keinen gekratzt hat. „Das ganze Werk, Kunst genannt, kennt keine Grenzen und keine Nationen, nur die Menschheit“, heißt es im berühmten Almanach. Wenngleich das niemand an der Tate so formulieren würde, ist diese „Rider“-Show natürlich auch ein Statement gegen den Brexit.

    Man vergisst das gerne, aber Franz Marc war der einzige Münchner – mit französischer Mutter. Die anderen „Blue Riders“ kamen aus dem Rheinland, Berlin, aus der Schweiz, Österreich, Polen und viele aus Russland. Nicht zuletzt, weil sie im damals halbwegs liberalen München freier leben und arbeiten konnten. Das unkonventionell Offene der Schwabinger Bohème hatte sich jedenfalls herumgesprochen. 

    Ausstellung mit Kandinsky, Marc und Co.: Wie München von London profitiert

    Für Matthias Mühling, den Lenbachhaus-Direktor, ist das Zusammenspiel mit der Tate ein Höhepunkt in der Geschichte des Museums. Das betrifft auch den Austausch von Forschungsergebnissen, der in den vergangenen Jahren nicht selbstverständlich gewesen sei. Und wenn nun Natalia Sidlina tief in die „Reiter“-Thematik eingestiegen ist, sich mehrmals nach Murnau begeben und genauso die Kandinsky-Bibliothek im Pariser Centre Pompidou durchforstet hat, dann profitiert davon auch die Münchner Sammlung.

    Das Tate Modern in London präsentiert den Blauen Reiter, darunter auch Gabriele Münters "Kandinsky und Erma Bossi am Tisch" aus dem Jahr 1912.
    Das Tate Modern in London präsentiert den Blauen Reiter, darunter auch Gabriele Münters "Kandinsky und Erma Bossi am Tisch" aus dem Jahr 1912. Foto: Lenbachhaus München, Dacs 2024

    Die in Russland aufgewachsene Kunsthistorikerin hat sich Kandinskys Briefe und Tagebuchaufzeichnungen vorgenommen und interessante Details genauer untersucht: Während seines Jurastudiums ist er 22-jährig von Moskau aus ins nördliche Ural-Gebirge gereist, um das Rechtssystem der finno-ugrischen Syrjanen, heute Komi, zu erkunden. Dabei lernte Kandinsky auch die Handwerkskultur des Fischer- und Jägervolks sowie dessen Spiritualität kennen. Neben der Beschäftigung mit Rembrandt scheinen diese Wochen tiefe Eindrücke hinterlassen zu haben. Kandinsky wird mit der Kolonialisierung des Landes und den sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Auswirkungen konfrontiert. Das ist das eine; auf der anderen Seite sollte Kandinsky später seine symbolische Bildsprache auf diese Erfahrungen zurückführen. 

    Bis der „Expressionissm“ dann „blue“ wird, dauert es bekanntlich, sowieso sind die Farben die schönste Ablenkung von der eigentlichen Revolution. Ein neugieriger Blick von außen kann also nicht schaden. 

    Expressionists: Kandinsky, Münter and the Blue Rider. Ab 25. April in der Tate Modern London (bis 20. Oktober).

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