Im funkelnden Ganzkörperanzug steht er da, die Säule unter ihm so schwindelerregend hoch wie der Absatz seiner Schuhe. „It’s like i’m dreamin’“, singt Bill Kaulitz und einige Fans im Münchner Olympiastadion fühlen wohl genau das. Ist ja auch ein wenig surreal, ihn dort oben stehen zu sehen. „Ich bin nicht mehr das jüngste Zirkuspferd, auch wenn ich so aussehe“, scherzt Kaulitz. Eben erst ist er 35 Jahre alt geworden, doch unter Popstars zählt er zu den alten Hasen oder Mäusen, wie er sagen würde. Denn Kaulitz und sein Zwillingsbruder Tom, Gitarrist der Band, waren gerade 15 Jahren alt, als sie mit Tokio Hotel schlagartig berühmt wurden. Zwei Schüler aus der mitteldeutschen Provinz, die plötzlich mit Leibwächtern das Haus verlassen mussten, weil ihnen kreischende Teenager weltweit zu Füßen lagen.
Die Kaulitz-Brüder erfinden sich mit einem eigenen Podcast neu
Manche von damals stehen jetzt im Olympiastadion. „Wer hat uns damals schon live gesehen?“, fragt Kaulitz. Einige Hände gehen hoch, doch auch junge Fans wie Charlotte und Laura sind im Publikum. Was ihnen an Tokio Hotel gefällt? „Sie sind lustig und lassen sich von niemandem etwas sagen, damit sind sie gute Vorbilder“, finden die Teenies. „Und ihre Musik macht gute Laune.“ Hätten Fans vor 20 Jahren wohl auch gesagt, einziger Unterschied: Heute drucken sie sich die Bandposter selbst aus, weil in Zeitschriften nur noch selten welche drin sind.
Tokio Hotel sind immer noch gefragt, wenn auch nicht vorwiegend wegen ihrer Musik. Die Kaulitz-Brüder sind das Aushängeschild der Band und haben schon vieles gemacht – Mode, Werbung, sie saßen in der Jury von „The Voice“, Tom Kaulitz ist mit Heidi Klum verheiratet. Doch als sie vor drei Jahren ihren eigenen Podcast starten, werden sie fast so unerwartet wie beim ersten Mal zu Superstars des Formats. Einmal in der Woche plaudern sie über sich und ihr Leben in Hollywood – seit 14 Jahren wohnen sie in Los Angeles. Mal schwärmt Bill von seinem attraktiven Chiropraktiker oder erzählt, wie er auf dem E-Scooter geblitzt wurde, mal hängen sie mit Hangover und selbst attestierter Knoblauchfahne am Mikro und sinnieren über ihren Reichtum. Millionen hören ihnen dabei zu, denn sie sind offen, charismatisch und nehmen sich nicht allzu ernst.
Neben Tokio Hotel spielen beim Superbloom in München Sam Smith und Niall Horan
Dass sie beim Superbloom-Festival in München nachmittags spielen und nicht wie Headliner üblich am Abend, stört Bill Kaulitz nur aus einem Grund. „Wir haben noch nie so früh gespielt, fühlt sich an wie Frühstücksfernsehen“, witzelt er. „Normalerweise liege ich um die Zeit mit Kater im Bett, ich habe extra nichts getrunken gestern.“ Dann ruft er den Fans ein flapsiges „Gut seht ihr aus!“ zu und tänzelt über die Bühne.
Tokio Hotel gehören zu den Hauptacts des zweitägigen Festivals, bei dem rund 50.000 Menschen im Olympiapark feiern. Mit ihnen stehen Grammy-Gewinner Sam Smith und das Elektro-Duo The Chainsmokers auf der Bühne. Für Hip-Hop-Fans spielen Shirin David, Rin, Pop-Rapper Cro und der Brite Loyle Carner. Auch die ehemaligen One-Direction-Sänger Niall Horan und Louis Tomlinson treten Solo auf. Anders als in den Jahren zuvor stehen die beiden Hauptbühnen nebeneinander im Olympiastadion und werden abwechselnd bespielt. Das verkürzt die Laufwege, aber auch den Zeitplan. Fünf Minuten zwischen den Acts – da bleibt kaum Zeit, zum Durchatmen. Die Stimmung ist trotzdem gut, auch vor dem Stadion, wo Fans vor verspiegelten Säulen Selfies machen, Rollschuhfahren, sich im Vorbeigehen schminken oder tätowieren lassen – ein wenig Kommerz und dann ab zum Yoga für die innere Ruhe.
Erste Tokio-Hotel-Euphorie: Zwei Mitschülerinnen erinnern sich an den Sommer 2005
Davon ist bei Tokio Hotel nichts zu spüren. Die Menge feiert zu Synthiepop-Liedern wie „The heart get no sleep“ oder „Home“, dem Titelsong zur neuen Netflix-Serie, die das Leben der Kaulitz-Brüder zeigt. Bei „Feel it all“ gehen alle in die Knie und springen auf Kaulitz’ Kommando in die Höhe. Auch „Fahr mit mir“, das die Band mit Kraftklub aufgenommen hatte, ist gut tanzbar. So emotional und textsicher wie die Teenies vor 20 Jahren sind die Besuchenden im Olympiastadion nicht. Erst bei den alten Hits kommen die Gefühle, bei „Spring nicht“ singen alle mit, bei „Durch den Monsun“ fließen Tränen. Das Lied erscheint im Sommer 2005 und läuft auf MTV in Dauerschleife. Das Album „Schrei“ landet auf Platz Eins der Charts und plötzlich füllt die Schülerband Stadien von Frankreich bis Mexiko.
Maja und Alex erinnern sich noch an den Sommer, als plötzlich tausende Fans die Schule belagerten. Die beiden kommen wie die Kaulitz-Brüder aus Magdeburg, besuchten dieselbe Schule, heute stehen sie neben tausenden Fans im Olympiastadion, um Tokio Hotel live zu hören. „Ich weiß noch, wie sie in der Turnhalle gespielt haben, damals nannten sie sich noch Devilish“, sagt Alex und lacht. „Ich war etwas älter und fand sie ziemlich uncool.“ Heute verfolgt sie gern, was die Zwillingsbrüder machen. „Ich sehe Bill noch über den Schulhof laufen mit wilder Frisur und Schminke im Gesicht“, sagt Maja. „Sein Image ist nicht aufgesetzt, er war immer schon anders und hat sich nie verunsichern lassen.“ Die Menschen in der Umgebung seien vom Hype damals überrumpelt gewesen. Plötzlich waren überall Fans, das Bushäuschen in Loitsche, wo die Zwillingsbrüder wohnten, war vollgekritzelt mit Liebesbekundungen.
Tokio Hotel in München: Bill Kaulitz wechselt dreimal das Outfit – erst Glitzer, dann Lack und Leder
Und heute? „Ist es ruhig“, sagt Alex. Niemand pilgere mehr wegen Tokio Hotel nach Magdeburg, auch wenn Schlagzeuger Gustav Schäfer immer noch dort wohnt. Bassist Georg Listing lebt inzwischen in Berlin, die Zwillingsbrüder zogen in die USA, weil der Druck zu groß wurde. Sie flüchteten vor ihrer eigenen Karriere, den Fans, Stalkern und Paparazzi. Sie polarisierten, wurden geliebt und gehasst und waren ihrer Zeit doch voraus.
Bill Kaulitz, früher schon androgyn zwischen Emo-Look und Manga-Style, wird heute als Ikone der LGBT-Bewegung gefeiert. Beim Konzert in München wechselt er in einer Stunde dreimal das Outfit, trägt mal Glitzer, mal Lack und Leder, während die anderen drei bodenständig in Jeans und T-Shirt dastehen. Ein bisschen Disco-Pop und Emo-Geschrammel, ein bisschen Travestie und Nostalgie, ein bisschen drüber, aber auch nahbar. Der Charme der Band liegt wohl auch darin, dass sie sich nicht einordnen lassen. Dass sie so verschiedene Typen sind und trotzdem zusammenspielen. Das war früher so – und ist immer noch so.
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