Hoch oben vor dem nördlichsten Zipfel Schottlands liegen die Orkney-Inseln. Atlantik und Nordsee treffen hier mit ihren maritimen Gewalten aufeinander. Seit der Eiszeit trotzen die knapp 70 Inseln allen Stürmen und Fluten. Die wilde Natur des Archipels ist in Nora Fingscheidts „The Outrun“ die zweite, gleichberechtigte Hauptfigur neben der jungen Protagonistin Rona, die von der irischen Schauspielerin Saoirse Ronan verkörpert wird. Die kriselnde Heldin und die eindrückliche Landschaft kämpfen mit- und gegeneinander und verhelfen diesem Film gemeinsam zu seiner rohen, stürmischen Kraft.
Nora Fingscheidt inszeniert Amy Liptrots schottisches Insel-Drama
Vor einigen Jahren hat Rona den Ort ihrer Herkunft verlassen, um in London Biologie zu studieren. Aus der Einsamkeit der Inseln warf sie sich hinein in die turbulente Stadt, zog von einer Party zu anderen, trank immer mehr und immer zu viel Alkohol. Zu Beginn des Films sehen wir, wie Rona volltrunken, halb randalierend aus einer Bar geworfen wird. Am Morgen danach sitzt sie mit blauen Flecken am Körper und einem blutunterlaufen Auge gegenüber der Ärztin, die zu einer Entziehungskur rät.
Von hier aus springt Fingscheidt, die hier den autofiktionalen Roman von Amy Liptrot auf die Leinwand bringt, auf dem Zeitstrahl vor und zurück. Unten am Bildrand wird die Zahl der Tage eingeblendet, die Rona trocken geblieben ist. Nach einer dreimonatigen Therapie geht sie zurück auf die Orkney-Inseln, um den Versuchungen des Londoner Partylebens zu entgehen. Sie hilft ihrem Vater auf der Schaf-Farm aus, der an einer bipolaren Störung leidet. Die depressiven und manischen Episoden haben Ronas Kindheit geprägt. Die Mutter hat sich aus der Ehe hinein in eine streng christliche Glaubensgemeinschaft geflüchtet.
In „The Outrun“ kämpft Heldin Rona mit ihrer Familiengeschichte
Zurück auf der Insel ist Rona mit den Erinnerungen an eine schwierige familiäre Vergangenheit ebenso konfrontiert wie mit ihrem gescheiterten Versuch, in London ein neues Leben anzufangen. Die Alkoholsucht war stärker als ihre große Liebe zu Daynin (Paapa Essiedu), der Ronas dauernden Abstürze irgendwann nicht mehr ertrug. Wie die hohen Wellen am Kliff branden die Erinnerungen heran und drohen Rona immer wieder hinweg zu spülen. Um sich zu beschäftigen, heuert sie als Freiwillige bei einer Naturschutzorganisation an, wo sie systematisch die Hauptinsel auf der Suche nach dem vom Aussterben bedrohten Wachtelkönig durchkämmt. Aber auch die kontemplative Arbeit kann sie vor einem Rückfall nicht schützen. Zurück auf Tag 1 begibt sich Rona in ein Cottage auf der nördlichsten Insel, wo sie sich den Winterstürmen und den eigenen Dämonen stellt.
„The Outrun“ ist kein klassisches Alkoholikerdrama, das den Weg von der Ausnüchterung hin zu einer Erleuchtung beschreibt. Vielmehr zeichnet Fingscheidt das vollumfängliche Porträt einer jungen Frau, die aus schwierigen Familienverhältnissen kommt und am Ort ihrer Herkunft nach einer Verwurzelung sucht. Diese Verwurzelung entsteht auch aus der tiefen Verbundenheit mit einer rauen, mythologische aufgeladenen Naturlandschaft, die mit ihrem meteorologischen Wechseln die Wirklichkeit immer wieder in einem neuen Licht erscheinen lässt.
Saorise Ronan überzeugt im Insel-Film „The Outrun“
Ohne touristische Verklärung fasst Fingscheidt die magische Kraft dieser Landschaft ein, die ihre kriselnde Protagonistin immer wieder herausfordert und gleichzeitig beheimatet. Saoirse Ronan macht die Figur auf äußerst beeindruckende Weise transparent und nahbar, ohne sie zu entblößen. Ihrer strauchelnden Heldin beim Denken und Fühlen, beim Verzweifeln und langsamen Wiederaufblühen zuschauen zu dürfen, ist ein echtes Geschenk.
Ohne Beschönigung, Gängelungen und lästigen Katharsis-Zwang zeigt Fingscheidt den holprigen und verschlungenen Weg, den eine junge Alkoholikerin hin zu einer neuen, inneren Lebensperspektive zurücklegen muss. Damit reiht sich „The Outrun“ nahtlos in das Werk dieser umsichtigen und einfühlsamen Regisseurin ein, die mit ihrem Debüt „Systemsprenger“ (2019) und dem Nachfolgefilm „The Unforgivable“ (2021) ihr sicheres Gespür für weibliche Figuren in sozialen und psychologischen Krisensituationen bewiesen hat.
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