Herkömmliche Sichtweisen aufbrechen, das eigene Selbst hinterfragen – im besten Fall kann eine Theateraufführung diese Prozesse in Gang setzen, meist, indem Schauspielerinnen und Schauspieler auf der Bühne eine Geschichte erzählen. Bei den Salzburger Festspielen gelingt dies in „Spiegelneuronen“, einer als „dokumentarischer Tanzabend mit Publikum“ ausgewiesenen Inszenierung, auf verblüffende Weise ohne Geschichte, Schauspiel und Tanz - und auch ohne Bühne. Das Publikum spielt selbst die Hauptrolle.
In „Spiegelneuronen“ geht es ums Mitmachen und Nachahmen
Der Vorhang öffnet sich und gibt den Blick frei auf einen bühnenbreiten Spiegel und folglich auf die 500 Menschen, die im Zuschauerraum der Spielstätte „Szene“ sitzen. Informierte Besucher wissen, es geht in den nächsten 75 Minuten ums Nachahmen und Mitmachen. Manch einer wird mit gemischten Gefühlen gekommen sein, vor allem wenn er im Programmheft die Warnung liest: „Stellenweise kann es zu räumlicher Nähe zu den Sitznachbar.innen kommen.“ Stefan Kaegi vom Berliner Theaterkollektiv Rimini Protokoll und die Tanztruppe von Sasha Waltz & Guests beschäftigen sich in dieser Inszenierung mit den Spiegelneuronen, jenen Nervenzellen im Gehirn, die - vereinfacht ausgedrückt - dafür verantwortlich sind, dass wir Handlungen erkennen und diese nachahmen.
Die ersten Reaktionen sind verhalten, einige recken die Köpfe und suchen das eigene Gesicht im Spiegel, manche winken. Immer mehr Menschen heben die Arme, wedeln und schwenken sie. Verteilt im Publikum sitzen die Mitglieder der Sasha Waltz-Company, zu erkennen daran, dass ihre Bewegungen und Gesten professioneller wirken, eleganter und ausgefeilter. In der Vorreihe der Herr mit Glatze in Schwarz gehört erkennbar dazu. In Zeitlupe hebt er den rechten Arm, knickt die Hand ab und bewegt die Finger fließend in Wellenbewegungen in die Höhe. „Warum nicht mitmachen?“, sagt eine Stimme aus dem Off. Ja, warum eigentlich nicht?
Ein Handylicht geht an und viele folgen dem Impuls
Viele lassen sich auf Anhieb darauf ein, andere sind noch nicht so weit, schauen erst mal interessiert, fasziniert oder auch amüsiert um sich. So hat sich der vor Vorstellungsbeginn sichtbar angeödete Teenager auf dem Nebenplatz Theater bestimmt nicht vorgestellt: was für ein Riesenspaß! Er hampelt mit, macht sein Handylicht an, wie er es von Popkonzerten kennt – und freut sich diebisch darüber, dass viele im Saal es ihm nachmachen.
Jeder kann hier einen Impuls geben, zum Leader werden. Jeder kann eine Rolle spielen, zusammen werden Zuschauerinnen und Zuschauer zum Ensemble. Aus dem Off erklingen die Stimmen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die Erkenntnisse der Hirnforschung referieren, gesellschaftliche Zusammenhänge herstellen, aber auch kommentieren. „Es ist gut, wenn man sich als Teil einer Menge wahrnimmt.“
Im Licht formen sich Menschen zu Gruppen
Junge und alte, bewegliche und steife, festlich gekleidete ebenso wie die in Jeans und T-Shirt, alle zusammen werden sie zu einem kunterbunten, glücklich wogenden Haufen. Zu anschwellenden elektronischen Klängen recken und senken sie die Arme, nicken mit den Köpfen und formen mit den Händen Gesten, bis die meisten stehen und zu hämmernden Beats am Platz tanzen. Oder auch mit verschränkten Armen auf ihrem Stuhl sitzen bleiben. „Wir könnten eine Gruppe gründen von Menschen, die nicht mitmachen wollen“, heißt es aus dem Off. Es muss niemand Angst haben, allein zu sein. Gruppendynamik ergibt sich auch durch den raffinierten Einsatz des Lichtes, das die Zuschauerreihen mal zu einer Pyramide formt, mal Spots auf einzelne Plätze wirft oder Sitzreihe für Sitzreihe nach oben wandert.
Aus kleinen Impulsen entstehen große Bewegungen. Die Spiegelneuronen der rund 500 Menschen im Saal sind sichtbar aktiv. Selten war Wissenschaft so sinnlich erfahrbar wie bei diesem Bewegungsspektakel, bei dem es darum geht, sich in der Gruppe zu erfahren, zu agieren, zu reagieren und zu sehen, wie man sich mitreißen lässt.
Ist Verweigerung schon Widerstand?
Zu handeln wie die Mehrheit handelt, das wirft aber auch Fragen auf: Wie passt dazu das Bedürfnis nach Individualität und Originalität, das in unserer modernen Gesellschaft so ausgeprägt ist? Ist nicht Mitmachen nur Unlust oder schon Widerstand? Und was, wenn die Verführbarkeit der Masse zur Manipulation wird? Es ist auch eine zweischneidige Sache, dieses Bedürfnis nach dem Aufgehen in der Gemeinschaft. An diesem Abend aber ist es einfach nur großartig. „You´re fucking special“ singen Radiohead in ihrem Song „Creep“, mit dem das Publikum in den prasselnden Salzburger Regen entlassen wird. Auf diese faszinierende „Inszenierung“ trifft es allemal zu.
Weitere Termine am 16., 17., 18., 19. und 21. August im Rahmen der Salzburger Festspiele.
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