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Roman: "Noch wach?" von Stuckrad-Barre: Nur ein Roman, echt jetzt?

Roman

"Noch wach?" von Stuckrad-Barre: Nur ein Roman, echt jetzt?

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    Der Autor Benjamin von Stuckrad-Barre liest im Berliner Ensemble aus seinem Buch "Noch wach?".
    Der Autor Benjamin von Stuckrad-Barre liest im Berliner Ensemble aus seinem Buch "Noch wach?". Foto: Hannes P. Albert, dpa

    Der Schlüsselroman hat ein etwas schmuddeliges Image. Als sei er nicht ganz der schmutzigen Realität entkommen, die er behandelt. Auch deswegen mag sich oft keiner zu ihm bekennen. Nicht die Schreibenden, die den Fiktions-Sticker draufkleben lassen, natürlich meist auch nicht die Entschlüsselten, die sich ja im Buch auch gar nicht erkennen wollen. Außer sie sind ganz fein gezeichnet, vielleicht sogar feiner als in der Realität. 

    Seit Monaten wurde gerätselt, ob der neue Roman von Benjamin von Stuckrad-Barre das also nun sein werde: Ein Schlüsselroman über Machtmissbrauch und Affären im Springer-Konzern, in dem die Umrisse des ehemaligen Bild-Chefredakteurs Julian Reichelt und die des Springer-Chefs Mathias Döpfner zu erkennen sind, am Ende sogar Details. Nun ist er also da: "Noch wach?", 384 Seiten lang, und bevor man den wirklich unverschämt ersten guten Satz lesen kann – "Und dann fragt er dich, ob er dir den amerikanischen Botschafter vorstellen darf" – wird erst einmal zwei Seiten davor folgendes klargestellt: "Dieser Roman ist in Teilen inspiriert von verschiedenen realen Ereignissen, er ist jedoch eine hiervon losgelöste und unabhängige Geschichte." Was der einst als Popliterat berühmt gewordene Autor Benjamin von Stuckrad-Barre am Erscheinungstag auch noch mal im Interview mit dem Spiegel bekräftigte. Da antwortete er auf die Frage, ob das ein Schlüsselroman sei, entrüstet: "Schlüsselroman? Auf gar keinen Fall. Was ist das auch für ein unangenehmes Wort." Auf die Frage, ob er Angst vor juristischen Konsequenzen habe, dagegen lässig: "Warum sollte ich? Ich schreibe über erfundene Figuren?" 

    "Noch wach?" ist kein Schlüsselroman, wie Autor Benjamin von Stuckrad-Barre betont

    Auftritt in diesem Roman haben unter anderem folgende: Ein Ich-Erzähler, der sich mal im legendären Hotel Chateau Marmont in Los Angeles die Zeit am Pool vertreibt, dann wieder sich durchs nasskalte Berlin kämpft. Weiter sein guter Freund, mächtiger CEO eines internationalen Medienkonzerns, in der späten Hoodie-Phase eines Männerlebens angekommen. Treffen sich die beiden, "brauchte es nie lang, bis wir in unseren Seelen herumgründelten". Zudem Sophia, zwei Master-Abschlüsse, die beim Boulevardsender schnell als das neue Gesicht ins Kameralicht geschubst wurde, gefördert von... Dem Chefredakteur! Der wird im Roman mit einem ekligen nächtlichen Chatverlauf eingeführt. "Noch wach", schreibt er an eine Mitarbeiterin: "Starke vermissung"... "Körper an körper JETZT".

    Es ist dann nur so: Wenn auf den ersten Seiten die Rede von eben jenem Chefredakteur ist und seiner irren Geschichte, wie er einmal in einem Kriegsgebiet mit einem Pferd gerade noch rechtzeitig vor einem Granateinschlag weggeritten sei, will man eigentlich sofort googeln: Reichelt, Krieg, Pferd. Und wenn etwas später der Erzähler, der irre viel mit Stuckrad-Barre zu tun hat, auch Schriftsteller ist, auch mal Gags für Harald Schmidt geschrieben hat, wenn der also mit seinem mächtigen Freund, den CEO, durch eine Baustelle in Berlin stapft, muss man innerlich mehrfach blinzeln, um das imaginäre Bild von Stuckrad-Barre und Döpfner bei der Besichtigung des Springer-Neubaus wieder zu löschen. Döpfnerhafter ist jedenfalls noch keine Figur in deutschen Romanen geraten. Für den echten kommt das Werk zur ungünstigsten Zeit, Stichwort Chataffäre.... 

    "Noch wach?" heißt der neue Roman von Benjamin von Stuckrad-Barre.
    "Noch wach?" heißt der neue Roman von Benjamin von Stuckrad-Barre. Foto: Jens Kalaene, dpa

    Figuren erinnern an Julian Reichelt, Mathias Döpfner und die Affären im Springer-Konzern

    Wenn man also das Wort Schlüssel dennoch streicht, wie vom Verfasser gewollt, was ist das für ein Roman? "Ein Sittengemälde unserer Zeit", so hat ihn der Verlag angekündigt. Nach dem Lesen mag man "unsere Zeit" jedenfalls noch ein bisschen weniger, aber eine andere gibt es halt nicht und wenn, dann wäre die vermutlich nicht besser. Denn Stuckrad-Barre schreibt ja über Männer und Macht, ein ewiges Thema, und was Männer mit Macht seit jeher mit Frauen machen... 

    Sein Ich-Erzähler gerät eher unfreiwillig in die Rolle des Zuhörers: Ob in Los Angeles am Pool oder in Berlin vor dem Laptop sitzend, erzählen ihm Frauen vom Machtmissbrauch, Affären, Angst, Ekel und übergriffigen Männern. Kurz bevor der Weinstein-Skandal öffentlich wird, bekommt er am Hotelpool von der Schauspielerin Rose McGowan, eine der Ersten, die den Medienmogul anzeigte, ein Buch über Monika Lewinsky geschenkt. Am Ende des Buches hat Rose noch ein paar eigene Worte hinterlassen: "Wenn sie sich dir anvertrauen – sei kein Arschloch. Hör ihnen zu. Such nach anderen. Hör ihnen zu. Und dann setz dich für sie ein..." Einen Auftrag, den der Ich-Erzähler annimmt.: Erzählt dem guten Freund, der nicht Döpfner ist, also von all den widerwärtigen Geschichten, die sich da in seinem Brüllsender ereignen, dringt nicht durch, wird abgewimmelt, schließlich selbst diffamiert. Was zum anderen Thema dieses Romans führt: Das Zerbrechen einer Männerfreundschaft an der Moral. 

    Benjamin von Stuckrad-Barre schreibt in einem Stil, der zwischen Verachtung und Witz wechselt

    All das beschrieben in diesem stets vibrierenden Stuckrad-Barre-Ton, der mal vor Verachtung trieft, dann wieder umwerfend witzig ist. Als "eine Art wirr faselnder Gartenzaunnazi" wird der Chefredakteur beschrieben, auch Gewichtszunahme vermerkt: "Dieser Typ hatte sich politisch doch sehr unangenehm radikalisiert mit den Jahren, war direkt proportional immer fetter geworden." Da er im Wutfunk sich ständig anmaßt, fürs gesamte Land zu sprechen, "jeder", "wir alle", "niemand", stellt sich der Erzähler vor, wie der Chefredakteur morgens vor dem Spiegel steht und denkt: "Deutschland rasiert sich gerade das Gesicht." 

    Rasend komisch, weil Stuckrad-Barre so ein rasend guter Stimmungsseismograf ist. Aber auch komisch gleichmäßig vor sich hinrasend dieser Roman, von dem man auch am Ende nicht wirklich weiß, wohin der Schriftsteller damit wollte. Beziehungsweise was er damit wollte. Einen Auftrag erfüllen im Namen der Frauen? Alle mal wach jetzt? Oder doch, wie es der Ich-Erzähler eigentlich ja immer vorhat, ein Buch über die Liebe schreiben? Nämlich der Liebe zwischen Freunden? Oder eventuell halt schon auch eine Art Abrechnung vorlegen? Die Wahrheit? Es bleibt das Gefühl, dass die Realität die Handlungseckpunkte vorgab, die Fiktion dazwischen geklemmt wurde. Julian Reichelt, also der echte Ex-Bild-Chefredakteur, lässt laut Tagesspiegel bereits ein juristisches Vorgehen gegen das Buch prüfen. 

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