Ein Sohn kommt zurück in die Kleinstadt, der er entwachsen ist. Er will seinen Vater besuchen. Man merkt, es kostet ihn Überwindung. Der erste Anlauf endet nicht vor der Tür des Vaters, sondern vor dem Kellerabteil im Mietshaus. Dort stapelt sich die Videokassetten-Sammlung, auf die sie früher stolz waren. Der Sohn verlässt das Haus, spaziert durch den Ort, dorthin, wo das Erinnerungsgeflecht besonders dicht ist. Am Ende zwingt er sich, beim Vater vorbeizuschauen. Doch je mehr er zurückgeschaut hat, desto unklarer wird ihm die eigene Existenz.
Die Videothek „Videotime“ gab es in Neuburg an der Donau tatsächlich
Der Teil, der die klassische Handlung von Roman Ehrlichs viertem Roman „Videotime“ ausmacht, kann knapp zusammengefasst werden. Die Kleinstadt in Bayern kann man sich wie das Neuburg an der Donau vorstellen, wo Roman Ehrlich aufgewachsen ist. Dort gab es die titelgebende Videothek „Videotime“ tatsächlich – nur auseinandergeschrieben in zwei Wörtern. Man muss es aber nicht gleichsetzen, weil Ehrlichs Kleinstadt-Erfahrungen welche sind, die in den späten 1980er und 1990er Jahren überall gemacht werden konnten.
Es geht um eine Bundeswehrfamilie, um den Tennisclub und eine erhoffte, aber nie angehende Profikarriere. Es geht um eine Kindheit und Jugend, in der Action- und Horror-Filme eine wichtige Rolle spielen, als Mutprobe, aber auch als Fluchtraum vor der Welt. Denn dort, im Fernsehen, warten die großen und spannenden Geschichten, nicht im alltäglichen Kleinstadtleben.
Dreh- und Angelpunkt für all das ist die örtliche Videothek, an die sich der Ich-Erzähler genau erinnert, den Teil jedenfalls, den er damals betreten durfte. Ehrlich setzt ein Kaleidoskop aus immer neuen Erinnerungen zusammen und taucht tief ins Kleinstadtleben ein: Steht er vor der ehemaligen Stamm-Pizzeria, denkt er an das Mädchen, vor dem er sich das erste Mal nackt ausgezogen hat – aus Neugier und nicht mit erotischem Interesse. Bei der Villa des örtlichen Mercedes-Händlers fällt ihm ein, dass er dort auf dem Fernsehsofa nur ohne Hose sitzen durfte, damit die Jeansknöpfe keine Löcher reißen. Und in dem Häuserblock, in dem sein neuer Schulfreund Ozan aus Mazedonien lebte, stellten sie Wrestlingkämpfe nach.
Verschränkt wird das Kleinstadtleben mit einem Reigen an Filmen
Das verschränkt Ehrlich mit einem Reigen an Filmen der Zeit, Filmen wie „Natural Born Killers“ (1994), „Universal Soldier“ (1992), „Hitman Hart: Wrestling With Shadows“ (1998). Für die Jungen haben sie eine viel größere Anziehungskraft und Bedeutung als Schule und Kleinstadt. In den Filmen ergründen sie die wahren Geheimnisse des Lebens. Da heißt es zum Beispiel: „Ich glaube, Ozan hat sich auch deshalb Bret Hart als Lieblingswrestler ausgesucht, weil der seine Liebe und Dankbarkeit dem eigenen Vater gegenüber so offensiv zum Ausdruck gebracht hat. In Selbstaussagen Bret Harts war der Schmerz, der ihm von seinem Vater im Dungeon zugefügt wurde, ein Vermächtnis und eine Vorbereitung auf das Leben, eine Formung der Person und der Figur, die er schließlich geworden war.“
Beim Ich-Erzähler findet das seine Gegenentsprechung: Der Vater, der aus seinem älteren Bruder einen Tennisprofi machen will, scheitert damit völlig und zerstört die Beziehung der beiden irreparabel. Wann und wie gelingt Erziehung? Von wem lässt man sich besser erziehen? Von Lehrern? Von Eltern? Von Filmen? Ehrlich legt so auf gut 360 Seiten ein dichtes, motivstarkes, auch unterhaltendes literarisches Kunstwerk vor, das immer glaubwürdig bleibt und eine Tiefendimension hat. Eine Empfehlung!
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