"Aber Du kannst nicht ewig jung sein." Das hat er schon vor gut elf Jahren gesagt, der etwas gemessener gewordene Front-Derwisch der Rolling Stones. Und zwar ganz am Schluss des Image-Dokumentarfilms "Crossfire Hurricane", herausgekommen anlässlich des 50. Geburtstags der selbst ernannten größten Rock 'n' Roll-Band der Welt. Die Show freilich ging weiter in den Arenen der Welt, so druckvoll und energiegeladen wie seit den 1970er Jahren gewohnt.
Aber jetzt kommt halt doch wieder ein Einschnitt in die professionelle Berufsjugendlichkeit der Blues-, Rock- und Tanzkapelle, die 2021 den Tod ihres Drummers Charlie Watts zu verkraften hatte: Der nächste aus der Gründungsbesetzung wird faltige 80, Sir Mick himself. Und im Dezember dürfte ihm, wenn nichts schiefgeht, der klampfende Überlebenskünstler Keith Richards folgen. Die beiden Glimmer-Twins kommen in alttestamentliche Altersregionen.
Mick Jagger hatte wenig Hemmung hinsichtlich Sex, Geld, Drogen und ekstatischem Rock 'n' Roll
Was Mick Jagger in besagtem Film noch sagt, ist: "Ich will nicht ständig diese extrovertierte [Bühnen-]Figur sein!" Das ist süß; wirklich süß bei einem, dem wenig Hemmungen hinsichtlich Sex, Geld, Drogen und aufstachelndem, ekstatischem Rock 'n' Roll nachgesagt werden können. Dem jedes Skandälchen, jeder Skandal, jede neue Liaison mit einer namhaften Gespielin – Marianne Faithfull, Marsha Hunt, Uschi Obermaier, Jerry Hall, L'Wren Scott, um nur mal eine Handvoll hinreichend ansehnlicher Damen herauszugreifen – zum Treibstoff einer Karriere geriet, die mehr benötigte als Extroversion. Bei Jagger, dieser größten aller Klappen, dieser schlüpfrigsten aller Lustzungen, kommt noch hinzu: Exaltation und Extravaganz. Rüstig kann er dies jetzt seinem jüngsten, sechsjährigen Sohn und seinen Urenkeln im etwa gleichen Alter weitergeben – ein Aufwasch.
Dabei ist freilich fairerweise festzuhalten: Der einstige Student der Londoner School of Economics and Political Science gab sich in den 1960er Jahren gegenüber der Öffentlichkeit geradezu bescheiden, ernsthaft, aufrichtig, britisch wohlerzogen. Erst mit wachsendem Erfolg, wachsendem Selbstbewusstsein häutete er sich zum bestimmend-dominanten Star, auf der Bühne ausgelebt als Diva (mit Fummel) und Dompteur der Massen, als Affenmensch und Luzifer, als Macho und Romantiker, als Einflüsterer und Einpeitscher. Das ist – zusammen mit den lendenbetonten Tänzchen, die er wagt – die visuelle Seite seiner ungeheuren Bühnenpräsenz, überholt noch von seiner leicht näselnden, leicht krähenden Stimme, die manieristisch manches verschluckt, gleichzeitig aber in baritonale Tiefen hinab- und in Falsetthöhen hinaufzusteigen vermag ("Worried about you"). Wird von Rockmusik-Kritikern übrigens fast genauso selten vermerkt wie Micks an die Nieren gehendes Bluesharp-Spiel.
Mit den Hits von Mick Jagger und Keith Richards könnten die Rolling Stones vier Konzerte bestreiten
Ja, und dann ist da noch eine Gabe, die als selbstverständlich mittlerweile hingenommen wird. Der Mann, 1943 in Dartford, Grafschaft Kent geboren, gehört zusammen mit Keith Richards zu den größten Songschreibern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wenn heute ein Stones-Konzert nahezu ritualmäßig die immergrünen Kracher der Truppe bringt, wird vergessen, dass die Stones mit dutzenden von herausragenden Nummern mindestens vier erstklassige Konzertprogramme ohne Wiederholung füllen könnten – weiterhin übrigens, obwohl Watts fehlt, in nahezu genuin musikhistorischer Aufführungspraxis.
Und vielleicht kommen ja noch ein paar gute Nummern hinzu. Die Gerüchte um eine neue Platten-Produktion reißen nicht ab, ja werden gar genährt. Angeblich sollen Paul McCartney, Ringo Starr und Ex-Stones-Bassist Bill Wyman mit von der Partie sein. 81, 83 und 86 Jahre alt. Time Waits For No-One.