Bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts hinein war Augsburg eine Hochburg der Textilindustrie. Zahlreiche Fabriken fanden sich in der Stadt, heute längst geschlossen, die Standorte anderer Nutzung zugeführt. Auch der Martinipark, Ausweichspielstätte des Staatstheaters Augsburg, liegt im ehemaligen „Textilviertel“. Weshalb Manuel Schmitt, Regisseur der neuen Rossini-„Cenerentola“ auf den Gedanken verfiel, die Geschichte vom Aschenputtel mit der „Gastarbeiter“-Geschichte der Augsburger Textilindustrie - ohne die ungezählten zuwandernden Frauen hätte sie nicht funktioniert - zu verknüpfen. Und so sieht man noch vor den ersten Orchesterklängen in einem Video eine der ehemaligen Arbeiterinnen, eine Sizilianerin, von den 1950er und 60er Jahren erzählen, als sie aus den Ländern des Südens für die Arbeit an den Webstühlen angeworben wurden und ihre Heimat verließen ... Wenn man dann zur Ouvertüre Angelina, die Cenerentola, im grauen Fabrikkittel am Webstuhl sitzen sieht, ist klar, dass die Geschichte vom niedrigste Dienste verrichtenden Aschenputtel, in das sich ein leibhaftiger Prinz verguckt, als so etwas wie der Traum der Arbeiterinnen von Aufstieg und Glück gezeigt werden soll.
Die per Video dokumentierte Realebene ist in der Inszenierung jedoch nicht mehr als ein Rahmen, denn in Rossinis Cenerentola-Handlung hineinverwoben hat Manuel Schmitt die Sozialgeschichte der Textilfabrikation nicht weiter, mit Ausnahme eines kurzen Intermezzos, das der Interviewpartnerin ein weiteres Mal Gelegenheit zum Erzählen gibt. In das Setting der eigentlichen Oper hinein reicht immerhin, dass es sich bei Don Magnifico, dem Vater der neidigen Schwestern Clorinda und Tisbe, um den Vorstand eines Schneiderhaushalts handelt, der - und mehr noch sein Nachwuchs - aus längst verblasstem Handwerkerstolz auf die in der Fabrik werkelnde Aschenputtel meint herabblicken zu können.
Stillstand herrscht so gut wie nie in dieser Rossini-Oper
Ansonsten aber ist die Cenerentola-Geschichte als ebenso wirbeliger wie romantisch bunter Traum inszeniert. Cremefarbene historisierende Wandelemente wechseln permanent ihren Standort (Bühne: Bernhard Siegl), die Kostüme (Dinah Ehm) sind bauschig-prächtig, bei den zum Gefolge des Prinzen Ramiro zählenden Chorsängern sogar als Defilee einer jahrhundertelangen Mode-Geschichte gestaltet. Stillstand herrscht so gut wie nie in der am Ende heftig applaudierten Inszenierung, die der „giocoso“-Heiterkeit des „Melodramma“ dann doch entschieden den Vorzug gibt vor reflektierteren Tönen, dabei manchmal nur haarscharf von der Kante zum Klamauk entfernt.
Ivan Demidov, Augsburgs 1. Kapellmeister, sorgt am Pult der Augsburger Philharmoniker für die nötige Orchester-Spritzigkeit, fraglos besitzt er ein Händchen für die typische Rossini-Dynamik. Nicht immer allerdings, vor allem in den schnellen Abschnitten, sind Orchester und Sängerparlando exakt zur Deckung gebracht. Und obwohl Demidov stets um Drosselung bemüht ist, liegt die Orchesterlautstärke hie und da empfindlich über dem Level der Gesangssolisten. Dann wird der Presto-Sprechgesang über das ebenerdig platzierte Orchester hinweg zum nicht mehr verständlichen Mischmasch.
Das Buffo-Geplapper schafft es manchmal kaum übers Orchester hinweg
So leichtfüßig bei Rossini die gesungene Rede sich auszunehmen vermag, so erheblich sind die Anforderungen, die sie an die Interpreten stellt. Das gilt gerade für die tiefen Stimmen, deren Buffo-Geplapper idealerweise nicht nur wie aus der Maschinenpistole kommen, sondern auch wortverständlich sein sollte. Shin Yeo als Don Magnifico tut sich beim Letzterem nicht immer leicht, kompensiert das aber durch darstellerischen Einsatz. Nicola Ziccardi hat in der Rolle des Dandini artikulatorisch den Vorteil des Muttersprachlers und überzeugt auch dadurch, dass er im Rollentausch gerade nicht den (fingierten) Prinzen übertrieben herauskehrt. Eine vokale Glanznummer serviert Avtandil Kaspeli als Philosoph Alidoro in seiner Bass-Arie im ersten Akt - so langsam empfiehlt sich das Augsburger Ensemblemitglied für wirklich gewichtige Rollen.
Olena Sloia und Luise von Garnier scheinen sich in der Typisierung des Geschwisterduos Clorinda und Tisbe Vorbild bei E.T.A. Hoffmanns aus dem Ruder laufender Automaten-Olympia genommen zu haben, sodass es nicht wundert, dass der Prinz sich irritiert von dannen wendet. Der hell timbrierte Manuel Amati als Ramiro verfügt über die nötige Leichtigkeit, um sich verzierungssicher in der Höhe zu bewegen, die mehrfachen hohen Cs in seiner Arie im zweiten Akt gelingen ihm sicher und mühelos, auch beim lang gehaltenen Finalton.
Ekaterina Aleksandrova meistert alle Zumutungen
Die eigentliche Wucht dieser „Cenerentola“ aber ist Ekaterina Aleksandrova in der Titelpartie. Ausgestattet mit einem herrlich sonoren tiefen Mezzo-Register, das der „Una volta c‘era un re“-Klage alle Herbstfarben der Melancholie verleiht, überzeugt sie nicht weniger durch Homogenität und Agilität in allen weiteren Stimmbereichen. Glänzend gelingt das finale und zurecht so gefürchtete Rondò: Ein ganzer Katalog von Zumutungen für die Stimme, große Intervallsprüngen, engmaschige Triller, Skalenstürze über zwei Oktaven, alles bravourös bewältigt von Ekaterina Aleksandrova. Auch in der Ausdrucksgestaltung ist zu spüren, hier steckt jemand wirklich in der Rolle der wandelnden Güte drin. Wunderbar.
Das Finale dieser alles in allem erfreulich gelungenen „Cenerentola“ ist ein Fest all‘ italiana, mit Rotwein und karierten Tischdecken und heiterer Stimmung bei allen Beteiligten. Ende gut, alles gut also bei dieser Traum-Geschichte, die doch so realitätsschwer begonnen hatte? Wie‘s Manuel Schmitt in den letzten Sekunden seiner Inszenierung enden lässt, das sei hier nicht verraten ...
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