Über ein eigenes Mozart-Ensemble zu verfügen, ist Traum eines jeden Opernhauses. Eine Sängerriege wie jenes legendäre Wiener Ensemble, das sich in der Nachkriegszeit um Namen wie Elisabeth Schwarzkopf, Irmgard Seefried und Sena Jurinac gruppierte, Stimmen, die für Frische, Beweglichkeit und Transparenz standen und diese Tugenden bei der Aufführung der großen Mozart-Opern auch darstellerisch zu transportieren vermochten. Die Bayerische Staatsoper scheint nun auf dem besten Weg zu sein, ein solches Mozart-Ensemble heranzubilden. Das jedenfalls legt der neue Münchner "Figaro" nahe – Mozarts Ensemblestück schlechthin –, der mit Interpreten wie Konstantin Krimmel, Elsa Dreisig, Avery Amereau und Louise Alder in tragenden Rollen auf hauseigene beziehungsweise dem Opernhaus eng verbundene junge Sängerinnen und Sänger setzt.
Vollends nimmt die Neuproduktion von "Le nozze die Figaro" dann für sich ein, wenn neben herausragenden sängerischen Leistungen auch die szenischen Komponenten überzeugen, wenn zuvörderst die Regie die sowieso schon windungsreiche Handlung nicht mit allzu hochgesteckter Gedankenfracht beschwert. Evgeny Titov tut in diesem Fall das Richtige, wenn er den Handlungsmotor in Gestalt des Grafen Almaviva – der, so die Handlung in aller Kürze, zwar eine attraktive Frau hat, sich deshalb aber nicht den übergriffigen Spaß an anderen Frauen nehmen lassen will, vorneweg mit Susanna, Braut des Kammerdieners Figaro –, wenn Regisseur Titov also den Grafen zwar als Drogenbaron auftreten lässt, der in einem heruntergekommenen Barockschloss samt Hanf-Plantage residiert (herrlich schimmelig das Interieur, wunderbar geschmacksverirrt die gräfliche Kostümierung, beides entworfen von Annemarie Woods).
Letztlich aber funktionalisiert Titov dieses dem Untergang geweihte Drogen-Ancien-Régime nicht weiter, sondern richtet den szenografischen Fokus mit heiterem Unterton ganz auf die Bewegung, die innere und äußere, des Figurenpersonals. Und das Ensemble lässt sich, sängerisch wie in der Rollengestaltung, mit unbändiger Lust darauf ein.
Der Gräfin Trauer über die "schönen Momente"
Da ist Elsa Dreisig als Gräfin: einerseits alles andere als eine milde leidende Gattin bei Gewahrwerden der amourösen Umtriebe ihres Gemahls, sondern durchaus leidenschaftliche Zornestöne darbietend, dann aber auch, in ruhigen, der Reflexion gewidmeten Momenten, den Schmerz der liebenden Ehefrau artikulierend, besonders anrührend in ihrem den "schönen Momenten" nachtrauernden "Dove sono". Und da ist Louise Alder als Susanna, bevorzugtes Objekt der Grafen-Begierde und Denkzettel-Strippenzieherin in einem: Beide Gemütslagen hält die englische Sopranistin durchgängig parat, und dass sie keineswegs nur die keck-kluge Kammerzofe ist, sondern ein fühlendes Herz besitzt, zeigt Alder mit warmen Farben der Empfindung in ihrer Arie "Deh vieni, non tardar", dem Arien-Glanzstück dieses Premierenabends im Nationaltheater.
Der Graf ist der allgemeine Kontrahent, seiner libidinösen Übergriffigkeit den Garaus zu machen gilt der übrigen Protagonisten. Dabei stellt Huw Montague Rendall ihn gar nicht explizit als Wüstling dar, eher als Getriebenen, auch nicht übertrieben herrisch, der heitere Ton der "comedia per musica" schimmert bei Rendall jedenfalls noch in der erregtesten (Schein-)Empörung durch. Figaro wiederum ist bei Konstantin Krimmel weit der Buffo-Tradition entrückt. Impulsiv, die Stimme mit entsprechendem Feuer unterlegt, reagiert er auf die Absichten seines Dienstherrn, doch noch der Erste bei Susanna zu sein, doch lässt er den Groll gegenüber dem Grafen – beispielhaft in "Se vuol ballare" – nicht laut überkochend, sondern mit Bedacht (und auch mal einem leisem "sì") hervortreten.
Dass der liebesverwirrte Page Cherubino nicht weiß, wo ihm der Kopf steht, dafür findet Avery Amereau nicht nur singend glaubhaften Ausdruck in ihrem "Non so più"-Bekenntnis, sondern vor allem auch im überzeugenden Hin- und Hergerissensein ihrer Auftritte. Amüsante Porträts kleineren Formats hat die Inszenierung aber auch beim weiteren Personal zu bieten, bei Marcellina etwa, getragen von Dorothea Röschmann, die sich von der mit dem Gürtel zuschlagenden Figaro-Verfolgerin zur gluckenden Figaro-Mutter wandelt, sowie im Gärtner Antonio (Martin Snell), der durch Cherubinos Fenstersprung seine in Mitleidenschaft gezogenen Hanf-Pflanzungen beklagt.
Stefano Montanari improvisiert und fabuliert
Aufs insgesamt elfköpfige Ensemble hochgerecht also ein sängerdarstellerischer Wurf, dieser neue "Figaro". Wer dieser Neuproduktion musikalisch jedoch vor allem seinen Stempel aufdrückt, ist Stefano Montanari. Von der Alten Musik herkommend, lässt der italienische Dirigent das Bayerische Staatsorchester nicht nur mit Naturhörnern und -trompeten musizieren, wie er überhaupt einen trocken-federnden, gleichwohl zur Wärme fähigen Klang favorisiert. Montanari steht mit den Musikern auch nicht tief im Graben, sondern hat den Orchesterplatz ein wenig anheben, Musiker und Sänger einander näher kommen lassen – Zeichen dafür, dass der Dirigent Partitur und Szene als untrennbare Einheit versteht.
Mit meist zügigen Tempi geht es zur Sache, schon die Ouvertüre wird ganz im Sinne des "folle giornata", des "verrückten Tags" durchjagt. Der Dirigent selbst gestaltet vom Hammerflügel aus die Rezitative, oftmals noch mit der Rechten das Orchester dirigierend, mit der Linken schon eine erste Klanggeste intonierend. Bloße Stützakkorde sind seine Sache nicht, im Gegenteil, Montanari improvisiert fast durchgängig, kommentiert auf den Tasten, fabuliert, verliert sich nicht selten auch in harmonische Zusammenhänge, die man von einem Adepten des historisch informierten Musizierens nicht unbedingt erwarten würde. Und doch gelingt Montanari Entscheidendes, hebt er doch die Trennung auf zwischen anbetungswürdiger Arien-Musik und langweiliger Rezitativ-Dürre zugunsten eines durchgängig dramatisch durchpulsten Geschehens. Nicht anders mehr mag man Mozarts Da-Ponte-Opern, den "Figaro" vorneweg, heute hören.