Das gab es noch nie. Nicht in dieser Menge. Nicht bei den Academy Awards in Hollywood, Los Angeles. Denn ein, zwei, drei, ja sogar vier der Oscar-Trophäen schnappt sich in diesem Jahr – ein Film aus Deutschland. Beim zweiten "And the Oscar goes to ..." für "Im Westen nichts Neues" steht die Crew dieses Films versammelt auf der Bühne: Schauspieler Daniel Brühl, immerhin hollywoodbekannt, aber eben auch Albert Schuch und Felix Kammerer, die erst seit kurzem auf der großen Leinwand zu erleben sind, nun strahlen sie gemeinsam auf der Bühne des Dolby Theatres. Bei den Academy Awards.
Regisseur Edward Berger bedankt sich in alle Himmelsrichtungen für das Männlein in Gold in der Kategorie "Bester Internationaler Film". Seit 1948 vergibt die Academy den Preis in dieser Sparte, er ging bisher dreimal nach Deutschland: "Die Blechtrommel" (1980), "Nirgendwo in Afrika" (2003), zuletzt "Das Leben der Anderen" (2007). Nun also "Im Westen nichts Neues", ein Film, der auf Erich Maria Remarques Kriegsroman beruht, auf seine Haltung gegen den Kampf, gegen das elendige Sterben in den Schützengräben. So ein Preis in dieser Zeit, ist das ein Zeichen? Der Film übertrumpft jedenfalls alle – beinahe. Die schrille Action- und Sozialkomödie "Everything, Everywhere, All at Once" gewinnt sieben Oscars. Übersetzt heißt der Titel: "Alles, überall, gleichzeitig" – und das könnte gut das Motto dieser 91. Oscars sein. Es ist eine Gala der Vielfalt und Überraschungen, mit Stars und rührenden Momenten kräftig beglitzert. Aber Hollywood scheint auch seine Routine wiederzufinden, in einer Gala ohne Skandale – oder Ohrfeigen.
Oscars 2023: Jimmy Kimmel moderiert die 91. Academy Awards
Dass "Im Westen nichts Neues" echte Chancen wittert, das hat auch der Moderator des Abends gerochen. Jimmy Kimmel – US-Talkmaster, zum dritten Mal Oscar-Conférencier, Typus Witzemacher von nebenan – zündet am Ende seines Eröffnungs-Monologs einen voreiligen Gag: Ach ja, der Oscar für den besten Film geht übrigens an "Im Westen nichts Neues", sagt er, "congratulations, Germany!". Aber alles nur Gag, nur Pointe – und doch mit einer gewissen Weitsicht. Mit neun Nominierungen ging die Netflix-Produktion in die Oscar-Nacht, vier nahm sie mit nach Hause. Eine stattliche Chancenverwertung, selbst ohne das Prädikat "Bester Film".
Kleine Grobheiten teilt Kimmel aus, nachdem er mit einem Fallschirm auf der Bühne gelandet ist (kleiner Knicks vor Tom Cruise und seinem neuen "Top Gun"-Düsenjäger-Epos). Kimmel verkündet die Spielregeln: "Wenn hier jemand eine Gewalttat in der Show begeht, dann ... erhält er den Preis für den besten Hauptdarsteller und die Erlaubnis, eine 19-minütige Rede zu halten." Ein verbaler Kinnhaken gegen die Academy und vor allem gegen Will Smith, der 2022 auf offener Oscar-Bühne dem Moderator Chris Rock eine Ohrfeige gepfeffert hatte, um nur Minuten später seine Trophäe vor Glück zu beweinen.
In diesen Kategorien gewinnt "Im Westen nichts Neues"
Diese Nacht blieb verschont von Skandalen. Auch von Farbe. Auffällig beige, gold, cremefarben, weiß schwebten die Roben über den Teppich, sodass manche Grazie in ihrer Kleidfarbe mit dem Ton des Teppichs konkurrieren muss – der trägt dieses Jahr Champagnerfarben statt Rot. Also alles nobel? Und etwas fad? Dafür betreten immer wieder überraschte Gäste für die deutsche Produktion die Bühne: Schlachtenbilder hat James Friend für die Remarque-Verfilmung eingefangen und gewinnt den Preis "Beste Kamera". Schützengräben haben sie mit Netflix-Geldern konstruiert für eine Erste-Weltkrieg-Kulisse, Felder der Westfront – Ernestine Hipper und Christian M. Goldbeck freuen sich über den Oscar "Bestes Szenenbild".
Mit Hipper, die auch am mehrfach nominierten „Tar“ mitwirkte, geht eine Trophäe in die Region: Die 60-Jährige stammt aus Langenmosen im Landkreis Neuburg-Schrobenhausen, hat an bekannten Produktionen wie "Krabat" oder "Fack ju Göhte 2" mitgearbeitet und wurde bereits andernorts prominent international für das Szenenbild ausgezeichnet - mit dem bedeutendsten französischen Filmpreis nämlich, dem Cesar, für das Szenenbild zu "Die Schöne und das Biest" 2014.
Vor allem Streich vier überrascht: Der Oscar für den "Score", die beste Musik zum bewegten Bild. Dies ist kein nebensächlicher Preis, kein Oscar zweiten Grades. Da sitzt unter den Anwärtern auch die Komponistenlegende John Williams, 53 Mal schon Oscar-nominiert, Schöpfer der Melodien von "Star Wars" bis "Harry Potter" – aber es gewinnt Volker Bertelmann aus Düsseldorf. Besser bekannt als Hauschka. Der Klavier-Tüftler hat ein schneidendes, wummerndes Schlachten-Tongemälde für den Film arrangiert.
"Im Westen nichts Neues" setzt nicht die einzige politische Note des Abends. Die beste Doku heißt "Navalny" und beleuchtet das Leben des Anti-Putin, des russischen Politikers Alexej Nawalny. Seine Ehefrau spricht auf der Bühne für ihn, denn ihr Gatte – der auch durch die westlich-demokratische Brille betrachtet nicht ganz unumstritten ist – weilt in russischer Einzelhaft. "Er sitzt im Gefängnis, weil er die Demokratie verteidigt", sagt sie. Aber eher peinlich statt staatstragend, das beherrscht diese Oscar-Gala 2023 auch. Im Publikum sitzt Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai, Botschafterin für Frieden und Kinderrechte, und Jimmy Kimmel widmet ihr einen Gag, bei der nur der Karnevals-Tusch fehlt: "Der Oscar geht an ... Ma-Lalaland!"
95. Oscar-Verleihung: Jamie Lee Curtis gewinnt einen Oscar
Doch es überwiegen rührende Augenblicke: John Travolta kündigt die Erinnerung an die Verstorbenen an, das Totengedenken bei den Oscars, und die Tränen stehen ihm in den Augen. Wohl weil er damit auch an Olivia Newton-John erinnert – mit ihr tanzte er in "Grease", 2022 starb sie mit 73 Jahren. Leichter wird es mit Musik: Lady Gaga ließ – unladylike in zerschlissener Hose – ihre Stimme vibrieren, auch Pop-Star Rihanna legte einen stattlichen Auftritt hin, den Ton gab aber Bollywood an. In einer farbenlustigen, sportlichen Performance präsentierten Tänzer und Sänger den Song "Naatu Naatu" aus dem indischen Film "RRR". Belohnt mit dem Prädikat "Bester Song" und krachendem Applaus.
Die beliebte, erfahrene Jamie Lee Curtis nimmt den Schwung mit in ihrer Rede, als die Schauspiel-Königsdisziplinen zur Vergabe anstehen. Curtis feiert – man glaubt es kaum – ihre erste Oscar-Nominierung, samt Oscar-Gewinn, für ihre Nebenrolle in "Everything, Everywhere, All at Once". Ihre Eltern, Tony Curtis und Janet Leigh waren einst beide nominiert – und die Tochter gewinnt heute. Mindestens so rührend dann die Freude des Ke Huy Quan, selber Film, bester Nebendarsteller. Tränen kullern hinter seinen Brillengläsern: "Mein Weg begann auf einem Boot", erzählt der Mann aus Vietnam. "Zwei Jahre lang lebte ich in einem Flüchtlingscamp." Und nun den Oscar in der Hand zu halten, das sei doch der wahre amerikanische Traum. In dieser Gewinnsträhne überrascht es dann nicht mehr, dass seine Kollegin den Oscar als Hauptdarstellerin gewinnt – Michelle Yeoh, die Favoritin, Schauspiel-Spätzünderin. Und da wäre auch noch Brandon Fraser, als Indiana-Jones-Verschnitt mit Charme und Muskelmasse avancierte er in der "Die Mumie"-Reihe einst zum Fan-Liebling. Für "The Whale" erhält er nach langen, harten, dürren Jahren seinen Oscar als bester Hauptdarsteller. Eine tragische Pfundsrolle, ein einsamer, schwer übergewichtiger Mann.
Keine Preise für Steven Spielbergs "The Fabelmans"
Mit "Everything, Everywhere, All at Once" feiert Hollywood eine Fantasy-Komödie über Integration und Emanzipation, mit Darstellern und Darstellerinnen mit asiatischen Wurzeln, denen die Academy so lange keinen Platz auf der Gala-Bühne eingeräumt hat. Aber wo Scheinwerfer, da Schatten, und auch Verlierer: Streifen, die das Kino in Krisenzeiten am Leben gehalten haben, sie gewinnen höchstens Preise auf Nebenschauplätzen. "Avatar – The Way of Water" und "Top Gun 2" ließen die Kassen in jedem Kino nicht mehr still stehen, werden aber mit jeweils nur einem Oscar in technischen Kategorien bedacht.
Doch was ist mit den "Fabelmans"? Kein Preis für Steven Spielbergs autobiografischen Rühr- und Verzauberfilm? Nur ein Oscar für "Wakanda Forever", die schwarze Superhelden-Fantasy? Und der gelobte Film "Tár" mit Cate Blanchett in der Rolle als egomanische Dirigentin? "The Banshees of Inisherin", diese blutige, süffige, extrem irische Männerfreundschafts-Beziehungskiste? Sendepause für diese Favoriten und Lieblinge der Masse. Bei den Oscars nichts Neues? Doch, die ein oder andere Überraschung – auch aus Deutschland.