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Norbert Lammert: Europa muss seine Verteidigungspolitik gemeinsam organisieren

Mauerfall

Norbert Lammert zum Mauerfall: „Aus einem Traum ist Realität geworden“

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    Ein Blick auf die Grenze zwischen West und Ost: Ein Beobachtungsturm an der ehemaligen innerdeutschen Grenze bei Sorge.
    Ein Blick auf die Grenze zwischen West und Ost: Ein Beobachtungsturm an der ehemaligen innerdeutschen Grenze bei Sorge. Foto: Matthias Bein, dpa

    „Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für uns alle.“ Traum – Hoffnung – Notwendigkeit: Der Dreiklang in diesem Zitat Konrad Adenauers zeigt, dass wir mit der europäischen Einheit zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Erwartungen und Ereignisse verbinden. An keinem Datum lässt sich das besser nachvollziehen als am 9. November – einem Tag, in dem sich Glanz und Elend der turbulenten deutschen Geschichte konzentriert wie an keinem anderen.

    Als Philipp Scheidemann am 9. November 1918 die Republik ausrief, war die europäische Idee noch eine fantastische Träumerei. Die damals begründete „Weimarer Republik“ ist nicht einmal volljährig geworden. Als sich am 9. November 1938 in der Reichspogromnacht das nationalsozialistische Deutschland aus der Gemeinschaft zivilisierter Staaten verabschiedete, musste die friedliche Einheit Europas als schiere Utopie erscheinen. Auf den Tag 51 Jahre später wurde in Berlin die Mauer geöffnet, die nach dem Sieg der Alliierten und der Teilung Deutschlands von der DDR erbaut wurde. Vier Jahrzehnte hatten sich im Kalten Krieg zwei verfeindete Blöcke gegenübergestanden; der Eiserne Vorhang verlief durch Deutschland und spaltete unser Land und Europa.

    Der Mauerfall beschleunigte den Zerfall der alten Welt

    Der Mauerfall war eine historische Zäsur. Er beschleunigte den Zerfall der alten Welt und führte zur Deutschen Einheit. Weltweit ist er zum Symbol der Hoffnung geworden, dass autoritäre Systeme überwunden werden können. Innerhalb kurzer Zeit ersetzten durch freie Wahlen demokratisch legitimierte Parlamente und Regierungen überall in Mittel- und Osteuropa autoritäre Regime; das machte die Europäische Union als Gemeinschaft auch mittel- und osteuropäischer Staaten erst möglich.

    Aus einem Traum ist Realität geworden und die lässt sich – im Gegensatz zu Träumen und Hoffnungen – evaluieren. Haben sich die Ansprüche, Erwartungen und Hoffnungen erfüllt, die die Menschen mit der europäischen Einheit verbunden haben? So mancher ist enttäuscht von den Entwicklungen der letzten Jahre. Das kann an überzogenen wie an berechtigten Erwartungen liegen: dass die Integration nicht schnell und weit genug geht oder viel zu rasch und übergriffig implementiert wird. Bedenkenswerte Argumente gibt es für das eine wie das andere.

    Einzelne Staaten können den Herausforderungen der Zeit nicht angemessen begegnen

    Konrad Adenauer hat einmal festgestellt: „Es gibt politische Notwendigkeiten, die so zwingend sind, dass sie sich auf lange Sicht durchsetzen müssen.“ Die europäische Integration ist so eine Notwendigkeit. Denn angesichts der großen Herausforderungen unserer Zeit wird immer deutlicher, dass ein einzelner Staat diesen Entwicklungen nicht angemessen begegnen kann. Der europäische Integrationsprozess ist eine intelligente Reaktion darauf.

    Die Einheit Europas wird künftig noch dringlicher werden. Denn zum einen zeichnen sich bei unserem wichtigsten Verbündeten – den USA – Veränderungen ab, die nicht nur mit dem Ausgang der Präsidentschaftswahlen verbunden sind. Zum anderen verschärft sich der Systemkonflikt mit Autokratien angeführt von China und Russland – auch mit Blick auf unsere Beziehungen zu Drittstaaten. Das zeigt sich in der Reaktion auf die Zerstörung der europäischen Friedensordnung durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und ebenso mit Blick auf die dramatische Entwicklung im Nahen Osten nach dem Terroranschlag auf Israel und den darauffolgenden Krieg.

    Europa muss seine Sicherheitspolitik neu und gemeinsam organisieren

    Angesichts dieser Entwicklungen ist es notwendig, dass Europa insbesondere seine Sicherheits- und Verteidigungspolitik gründlich neu und gemeinsam organisiert. Wir müssen dringend die notwendigen finanziellen und institutionellen Rahmenbedingungen schaffen, um unsere militärischen Verteidigungsfähigkeiten zu verbessern und unsere Außenpolitik strategischer an unseren Interessen ausrichten. Das macht uns nicht nur attraktiver für unseren Bündnispartner USA, sondern zeigt unseren Gegnern, dass das freiheitlich-demokratische Europa eine Kraft ist, die sich selbst ernst nimmt und auch von anderen ernst genommen werden sollte.

    Anne Applebaum, die in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hat, riet in einem Interview: „Die zentrale Aufgabe der Zukunft für alle liberale Demokratien ist, zu lernen, damit umzugehen, herausgefordert zu werden. Wir müssen lernen, uns zu wehren.“ Auch das gehört zu den Notwendigkeiten, die Europa begreifen und beherzigen muss.

    Prof. Dr. Norbert Lammert ist Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung und war Präsident des Deutschen Bundestages

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