Der französische Regisseur Jaques Audiard ist keiner, der es sich mit seinen Werken in Pariser Cafés gemütlich macht, um sich den Problemchen der heimischen Bourgeoisie zu widmen. Seine Filme katapultieren sich aus den selbstzufriedenen Konventionen des französischen Kinos heraus, erzählen von Menschen, die Wagnisse eingehen, und bringen lebendige Geschichten auf die Leinwand, in denen das Unvorhersehbare die treibende Dynamik bildet. In „Ein Prophet“ (2009) schickte er einen arabischen Häftling in einem korsischen Gefängnis auf mörderische Bildungsreise. An der Côte d’Azur brachte er in „Der Geschmack aus Rost und Knochen“ (2012) einen Türsteher und eine beinamputierte Wal-Trainerin zu einer rohen Romanze zusammen. Zuletzt fing Audiard in dem hinreißenden „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ (2021) das flirrende, unstete Lebensgefühl der Generation Tinder mit all seinen Reizen, Härten und Widersprüchen ein. Mit seinem neuen Werk „Emilia Pérez“ begibt sich der mittlerweile 72 Jahre alte Regisseur nun nach Mexico-City, um sich noch ein weiteres Mal neu zu erfinden.
„Emilia Pérez“ beginnt als Drogen-Thriller
Hier arbeitet die Anwältin Rita (Zoe Saldaña) für eine Kanzlei, die reiche, schuldige Klienten vor dem Gefängnis bewahrt. Nachts tippt die unterbezahlte Angestellte frustriert die verlogenen Plädoyers in den Computer, die ihr Chef vor Gericht aufsagt, um dafür Ansehen und satte Honorare einzustreichen. Aus ihrem Büro stürzt sie in die Nacht und singt ihre Wut hinaus - und die Menschen auf dem Markt, die Demonstranten auf der Straße sowie eine Putzkolonne in pinkfarbener Dienstbekleidung stimmen in ihren Song ein. Und schon werden wir hinein geworfen in ein Musical, das dank wilder Choreografien und beherztem Liedgut nur wenig mit den glatten Hollwoodstandards zu tun hat. Und das Musical-Element ist nur eine von vielen Genre-Zutaten, die Audiard mit cineastischer Euphorie ineinander verquirlt. Denn eigentlich beginnt „Emilia Pérez“ zunächst als Drogen-Thriller.
Nach einem erfolgreichen Prozessausgang meldet sich nachts eine Stimme am Telefon, die Rita einen Auftrag mit Millionenhonorar anbietet. Am verabredeten Treffpunkt wird sie gekidnappt und mit einem schwarzen Sack über dem Kopf weit hinaus in die Pampa gefahren. Der Auftraggeber entpuppt sich als der Kartellboss Manitas Del Monte (Karla Sofía Gascón), der die Anwältin für einen prekären Job anheuern will. „Ich möchte eine Frau werden“ raunt die furchteinflößende Stimme des Mannes mit vergoldetem Gebiss und vernarbtem Gesicht. Manitas will aussteigen aus dem Drogengeschäft und sich mit der Geschlechtsumwandlung endlich seinen tiefsten Wunsch erfüllen. Rita soll die passende Klinik finden, den fingierten Tod des Drogenbosses und die notwendigen Papiere für die neue Identität vorbereiten sowie Manitas Frau Jessie (Selena Gomez) mit den beiden gemeinsamen Kindern, die nicht in die Pläne eingeweiht sind, in die Schweiz in Sicherheit bringen. Wenige Monate später wacht Manitas aus der Narkose als Frau auf, gibt sich den Namen Emilia Pérez und überweist Rita die versprochenen Millionen.
Emilia will ihre mörderische Vergangenheit wieder gutmachen
Vier Jahre später nimmt die Klientin bei einem Dinner in London erneut Kontakt zur Anwältin auf. Emilia (Karla Sofía Gascón) sehnt sich nach ihren Kindern, die sie zusammen mit deren Mutter in ihre Villa in Mexico City umsiedeln will. Offiziell gibt sie sich als Manitas Kusine aus, die dem Verstorbenen versprochen habe sich um dessen Frau und Kinder zu kümmern. Aber nicht nur in familiärer Hinsicht will Emilia nach einem Neuanfang. Auch mit ihrer mörderischen Vergangenheit versucht sie ins Reine zu kommen. Zusammen mit Rita gründet sie eine Organisation, die die sterblichen Überreste der über 100.000 vermissten Opfer des mexikanischen Drogenkrieges aufspürt, um deren Familien einen würdevollen Abschied zu ermöglichen.
In dem melodramatischen Plot, der sich an Telenovela-Formate anlehnt und gleichzeitig an die Filme von Pedro Almodóvar erinnert, verhandelt Audiard auf höchst lebendige und kongeniale Weise Grundsatzfragen von Schuld, Reue und Sühne, von Geschlechteridentität und persönlicher Veränderung, von Freundschaft, Mutterschaft, Liebe, Politik und Gewalt. Zuviel auf einmal, erst recht in einem Musical-Format, könnte man denken. Aber die ambitionierte, wilde Melange entwickelt sich schon bald zu einem mitreißendem Kinoerlebnis, das den kollektiven Publikumspuls höher schlagen lässt. In Cannes gewann der Film, der für Frankreich ins Oscar-Rennen gehen wird, nicht nur den Preis der Jury. Auch die vier Hauptdarstellerinnen wurden hier gemeinsam mit der Goldenen Palme ausgezeichnet.
Selena Gomez setzt in „Emilia Pérez“ jede Szene unter Strom
Zurecht, denn selten hat man soviel herzergreifende Frauenpower auf der Leinwand gesehen. Zoe Saldaña, die mit ihren Auftritten in Blockbustern wie „Guardians of the Galaxy“ und „Avatar“ zu den qualitativ unterforderten Hollywood-Stars gehört, kann hier nicht nur ihre Musical-Fähigkeiten, sondern auch dramatische Tiefe unter Beweis stellen. Selena Gomez hat sich längst von ihrer Vergangenheit als Disney-Star freigespielt und setzt hier als unberechenbare Witwe jede Szene unter Strom. Als wahre Entdeckung erweist sich die wunderbare Karla Sofía Gascón, die sichtbar eigene Erfahrungen als Trans-Frau in ihre Rolle injiziert. Selten hat sich Kino in den letzten Jahren derart vital angefühlt. Von der unbändigen, cineastischen Energie, die „Emilia Pérez“ auf der Leinwand freisetzt, könnte sich das deutsche Film- und Fernsehschaffen mehrere Geschäftsjahre ernähren. Was für ein toller Film! Unbedingt anschauen.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden