Aktuelle Bezüge? Gibt es in jeder Ecke Ihrer Tageszeitung, in jedem Winkel des Netzes und täglich in der „Tagesschau“ oder im „Heute-Journal“. Natürlich Wasserstandsmeldungen zu den Kriegen in der Ukraine oder in Gaza, die man längst mit stoischem Gleichmut zur Kenntnis nimmt, was vor allem am natürlichen Selbstschutzreflex liegt. Und nun auch im Kino: Das Biopic „Oppenheimer“, ein Porträt des Mannes, der die Atombombe erfand, gewann sieben Oscars.
Sicherlich lässt sich darüber streiten, ob das gerechtfertigt ist. Aber möglicherweise wollte die Academy mit ihrer Entscheidung auch das Bewusstsein in Zeiten wie diesen justieren und Zusammenhänge zwischen gestern und heute hervorheben, Kausalketten sichtbar werden lassen, die bei vielen längst in Vergessenheit geraten sind. Vom gleichen Motiv getrieben waren offenbar auch die Macher der neunteiligen Dokuserie „Wendepunkt: Die Bombe und der Kalte Krieg“, die seit dieser Woche bei Netflix abrufbar ist. Denn kaum jemand wird der Behauptung widersprechen wollen: Ohne Oppenheimer, ohne die Bombe wäre die Welt heute eine völlig andere.
Was lösten die Atombomben-Abwürfe auf Hiroshima und Nagasaki aus?
Natürlich keine, in der von Ost nach West und Nord nach Süd Frieden herrschen würde. Die Geschichte lehrt: Größenwahn und Egoismus bahnten sich auch ohne Massenvernichtungswaffen über Jahrhunderte hinweg zuverlässig ihren Weg. Aber der Abwurf von US-Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im Jahr 1945 war so etwas wie ein Gamechanger im ungeschriebenen Regelwerk der Menschheitsgeschichte, bei dem nach einem Krieg automatisch der Wiederaufbau beginnen muss.
Eines wussten alle, die über einen weiteren Einsatz der Waffe nachdachten: Ein möglicher Nuklearkrieg würde keinen Sieger bringen, sondern nur die vollständige Auslöschung aller beteiligten Länder, vielleicht sogar der gesamten zivilisierten Welt. Egal, ob nun die USA oder die UdSSR einen Erstschlag planten – die Reaktion darauf wäre so sicher wie das Amen in der Kirche. Und die Folgen verheerend: Viele Millionen Tote, verwüstete Landschaften, verseuchte Wasserquellen. Das Ende der Erde, zumindest in der Form, wie wir sie kennen.
Kampf der Blöcke: Netflix-Doku erforscht die Zeit des Kalten Kriegs
Um ein solches Horrorszenario zu verhindern, entstand die Doktrin der nuklearen Abschreckung, basierend auf der Drohung einer „wechselseitigen gesicherten Vernichtung“ (Mutal Assured Destruction, kurz: MAD). Die Blöcke rüsteten ungerührt auf, ließen die Muskeln spielen, neutralisieren sich gegenseitig und schufen so ein Gleichgewicht des Schreckens. Der Kalte Krieg hatte begonnen; eine Zeit der Ungewissheit und Angst, in der die Menschen in unmittelbarer Nachbarschaft von einsatzbereiten Mittelstreckenraketen leben mussten, ein Machtkampf zwischen Supermächten.
Man mochte die MAD-Doktrin für wahnsinnig halten – in der ursprünglichen Bedeutung des englischen Wortes „mad“. Tatsächlich aber fußte das Kalkül der Abschreckung auf der Annahme, dass die Verantwortlichen in Ost und West durch und durch rational handelten. So trug die Fähigkeit beider Seiten, einander vollständig zu vernichten, tatsächlich dazu bei, das Ost-West-Verhältnis zu stabilisieren und einen „heißen Krieg“ zwischen den USA und der Sowjetunion zu vermeiden. Die tödlichsten Waffen, die die Menschheit je hervorgebracht hat, hatten sich kurioserweise zu Garanten des Friedens entwickelt.
Wolfgang Schäuble und Wolodymyr Selenskyj sprechen in der Serie
Es wurde ein langer, aber auch fragiler Frieden, dessen Bestand immer wieder am seidenen Faden hing. Dass es nicht zur nuklearen Katastrophe kam, lag erstaunlich oft an Zufällen oder beherzt handelnden Personen, deren Namen heute kaum jemand mehr kennt, wie etwa den des Obristen Stanislaw Petrow, der 1983 durch seine Besonnenheit den Ausbruch des Dritten Weltkriegs verhinderte, als das sowjetische Frühwarnsystem fälschlicherweise den Abschuss amerikanischer Raketen gemeldet hatte. Er, aber auch die in letzter Sekunde gestoppte Invasion in der Schweinebucht vor Kuba 1961 sowie die wie durch ein Wunder gewaltlos verlaufenden Demonstrationen in der DDR 1989 sind essenzielle Kapitel des Kalten Krieges, den Regisseur Brian Knappenberger in der Netflix-Serie mit historischen Filmsequenzen sowie rund 100 Interviews mit Personen aus sieben Ländern geschickt, einfühlsam und seriös auf den Grund geht.
Dabei beleuchtet er auch persönliche Geschichten, die zeigen, wie der Kalte Krieg Leben veränderte und Weltgeschichte beeinflusste. Er bittet Überlebende aus Hiroshima vor die Kamera, verknüpft Motive aus der Ukraine von 2022 mit den Montagsdemos in Leipzig 1989 und lässt Präsidenten Wolodymyr Selenskyj erklären, warum Wladimir Putin den Zusammenbruch der Sowjetunion in den frühen 1990er-Jahren als größtmögliche Katastrophe betrachtet und diese nun mit dem Angriff auf die Ukraine zumindest in Teilen wieder rückgängig machen möchte. Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, Ex-CIA-Direktor Robert Gates, die frühere amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice, der im Dezember verstorbene frühere Innenminister und Kanzleramtschef Wolfgang Schäuble, ostdeutsche Bürgerrechtler, die wesentlich zum Fall der Mauer beitrugen, sowie der Whistleblower der „Pentagon Papers“, Daniel Ellsberg, der die geheimen Nuklearpläne der USA als „institutionellen Irrsinn“ bezeichnete, kommentieren und analysieren das komplexe historische Geflecht.
Brian Knappenbergers Doku zeigt, wie umstritten das Wettrüsten ist
Die Welt scheint seit dem Ende des Kalten Krieges nicht etwa ruhiger, sondern unübersichtlicher geworden zu sein. Nicht wenige sehnen sich deshalb nach der vermeintlichen Klarheit, der Kalkulierbarkeit und der Stabilität des internationalen Systems im Kalten Krieg zurück. Das mag psychologisch nachvollziehbar sein, ist aber historisch falsch, denn ein solcher Blick übersieht die Risiken der nuklearen Abschreckung und die Brisanz der politischen Krisen jener Jahre. Genau diese Frage aber begleitet die sehenswerte Netflix-Doku und die gesamte Geschichte des atomaren Wettrüstens. Das nie unumstrittenen war, weder im Osten noch im Westen.