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Nachruf: Kompromisslos und kantig: Schriftsteller Martin Walser ist tot

Nachruf

Kompromisslos und kantig: Schriftsteller Martin Walser ist tot

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    Schriftsteller Martin Walser ist im Alter von 96 Jahren gestorben.
    Schriftsteller Martin Walser ist im Alter von 96 Jahren gestorben. Foto: Felix Kästle, dpa

    Theo Schadt ist 72, Geschäftsmann, dazu „Nebenherschreiber“ mit hohen Auflagen und populären Titeln wie „Wolkenbruch. Anleitung zur Selbstbefriedigung“. Mit einem Mal gerät Schadt in den fatalen Kreislauf von Konkurrenz, Verrat und Abstieg. Er fühlt sich aus der Gesellschaft gerissen, hängt mit seinem Wurzelwerk in der Luft und will nicht mehr – „Ein sterbender Mann“.

    So nennt Martin Walser seinen Briefroman von 2016. Doch anders, als es der finale Titel nahelegt, lässt der Autor keine sedierte Runde antreten, der das Licht ausgeblasen wird. Im Gegenteil: Neue Stichflammen des Lebens schießen hoch. Theo Schadt, der Züge eines tragischen Altersnarren trägt, wird von der Überlebensgier gepackt, besonders von einer unbändigen Schreiblust. Er schreibt und schreibt. Das heißt aber bei Walser immer, dass der (zumal im Spätwerk) souverän über die Tonarten von Lebensverfall und Liebeserlösung gebietende Schreibdrang ins Ungewisse und „Unerwartbare“ führt. Nun ist

    Martin Walser war manchen seiner Figuren sehr nahe

    Martin Walser hat einmal bekannt, wie nahe ihm die Figur des Theo Schadt steht, zumal wenn es ums Altern und ums Sterben geht. Je mehr das Leben einen abzuschütteln sucht, desto stärker reißt man es an sich. Man muss sich ja nur die späten Walser-Titel vor Augen halten. Buch auf in verblüffend kurzen Abständen vor. Walser schrieb um sein Leben, verpflichtete sich dem „Spätdienst“ (Titel von 2018). Dessen Beginn schallt wie eine Fanfare, die das Vergehen, die „Ermüdungsschwere“ übertönt: „Ich möchte sein wie ein Wunsch, / auf der Schwelle möchte ich stehen, / ein Tag sein vor seinem Aufbruch, / noch nicht gewesen sein möchte ich.“ Einmal gefragt, an was er glaube, antwortete Walser: „An das Unmögliche“.

    Das Unmögliche fasst er in seinem Notiz- und Denkband „Meßmers Momente“ (2013) in den Satz: „Es wäre schön, wenn man immer schreiben könnte“ – schreiben von Mangel und Verlust, schreiben im strikten Verfolg einer Welt- und Selbstbefragung fern der Schablone und „Abfertigungs-Tonart“.

    Schriftsteller Martin Walser hinterlässt ein gewaltiges Werk

    Noch in seinem unter dem Titel „Sprachlaub“ (2021) zusammengetragenen lyrischen Notaten verwahrt sich Walser gegen die „abgewetzten Wörter unseres öffentlichen Wortschatzes“, an dem „Machtwillen, Aggressivität und Rechthaberei“ haften. Dagegen imaginiert er sich als einen, der „mit fremden Wörtern“ herumschlendert, und er findet zu dem schönen poetischen Abgesang: „Wir schließen zum Schauen die Augen / und gleiten dem Jahr aus der Hand.“

    Es ist ein gewaltiges Werk, das vor uns liegt: Romane, Dramen, Aufsätze, Reden, Notizen, Tagebücher, Hörspiele. Günter Grass, 2015 gestorben, schrieb in sein Abschiedsbuch „Vonne Endlichkeit“ das Bekenntnis: „Nu hat sech jenuch jehabt.“ Das wäre einem Walser wohl schwerlich aus der Feder gekommen.

    Der am 24. März 1927 in Wasserburg/Bodensee geborene Gastwirtssohn darf als einer der repräsentativsten, gewichtigsten und streitbarsten Schriftsteller dieses Landes gelten. Lange Zeit war er 150 Tage und mehr pro Jahr auf Reisen. Wer zählt seine Lesungen, Diskussionen und Interviews, aus denen ein ums andere Mal öffentliche Erregungen hochschossen! Wer konnte es mit seiner medialen Dauerpräsenz aufnehmen? Bei allem Charme, von pfleglicher Verträglichkeit war dieser hohe Ansprüche an sich und andere stellende Mann weit weg. Sei es, dass er in den Protestchor gegen den Vietnamkrieg lautstark einstimmte, sich um 1970 der DKP annäherte (ohne je Mitglied zu sein). Sei es, dass er die Linken in den 1980er Jahren mit dem Bekenntnis verschreckte, er wolle sich nicht mit der deutschen Teilung abfinden („Über Deutschland reden“, 1988) – woraufhin er sich sogleich in die nationalistische Ecke gestellt sah. Walser, ausgestattet mit emotionaler Intensität, fand dieses politische Hin- und Hergeschiebe schlicht „zum Kotzen“.

    Martin Walser: kompromisslos und kantig

    Seine kompromisslose Kantigkeit fiel schon Hans Werner Richter auf, der die literarische Gruppe 47 durch die Nachkriegsjahre führte. Er sprach von einem „streitsüchtigen Alemannen“, einem „Egozentriker“. Mit einer Erzählung aus „Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten“ (1955) gewann der 28-jährige Walser den Preis der Gruppe 47.

    1957 folgte sein erster Roman „Ehen in Philippsburg“, ein großer Wurf, mannigfach ausstrahlend aufs künftige Werk, sogleich mit dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet. 1957 war das Jahr, in dem sich Walser als freier Schriftsteller am Bodensee niederließ. Seit 1968 lebte er in seinem Haus in Nußdorf, schrieb mit Panorama-Blick auf den See, fest gestützt auf seine Frau Käthe, der unentbehrlichen Wegbegleiterin der Textflut von der Entstehung bis zur Drucklegung. Der Bodensee sollte sich mitsamt den umliegenden Orten als „Quellgebiet von Stoffen, Figuren, Farben, Gerüchen, von Sinnlichkeit“ erweisen. Am und auf dem See spielt Walsers erfolgreichstes Buch (weit über eine Million mal verkauft), die stringente, hochdramatisch geschürzte Novelle „Ein fliehendes Pferd“ (1978). Darin messen sich Helmut Halm und Klaus Buch (wie später im Roman „Brandung“, 1985); Melancholie trifft auf Muskeln, Rotwein auf Mineralwasser.

    „Ehen in Philippsburg“: „Die Frau, die wir lieben, ist immer ein Ersatz für eine, die wir noch nicht haben, oder  . . . nie haben werden.“ Was für ein prophetisches (Walser-)Eingeständnis! Was für ein Treib-Satz der Sinnlichkeit! Er erweist seine existenzielle Brisanz bis hinein in die späten Romane „Das dreizehnte Kapitel“ (2012), „Die Inszenierung“ (2013) und „Briefe an eine unbekannte Geliebte“ (2018). Und er ist – mit Rückgriff auf den 74-jährigen Goethe und sein (Nicht-)Verhältnis zur 19-jährigen Ulrike von Levetzow – von beispielhafter Geltung in „Ein liebender Mann“ (2008).

    In Philippsburg tritt Hans Beumann ein in die Wirtschaftswunderwelt, kommt unter Anwälte, Redakteure, Intendanten und Industrielle. Walser wetzt in all den glänzend aufbereiteten Verklemmungen aus unglücklichen Ehen, verlogenen Empfindungen und hochgestemmten Fassaden sein Sprachmesser. Der (satirische) Blick erfasst ein Land, „wo die Tüchtigen wachsen wie das Unkraut“. Er sortiert die Fanatiker des Fortkommens, die sich dank ihrer Geltungssucht in Umlauf bringen, auf dem Weg nach oben immer neue Stufen zünden und dann doch in den Niederungen des Elends verglühen. Im Auf und Ab summieren sich die Verluste.

    Die Kristleins und Zürns, die Finks, Dorns und Halms lechzen nach „Sichtbarkeits-Triumphen“. Sie reiben sich auf in hemmungsloser Selbstbezichtigung, im Ellbogenkampf um die Karriere, in der Jagd nach Liebe. Und doch schafft es Walser mit seinem erzählerischen, mit funkelnder Ironie versetzten Furor, den Lesern diese zerknirschten Seelenarbeiter ans Herz zu legen. Sie sind uns näher als die Starken, die Sieger, die Glattköpfe. Der Autor gibt ihnen noch im Scheitern eine bewegende Leidensenergie mit, versieht sie noch in der Niederlage mit anrührendem Pathos.

    Anfangssätze voller Erschrecken: „Als Franz Horn aufwachte, waren seine Zähne aufeinandergebissen.“ („Jenseits der Liebe“, 1976). „Als Gottlieb Zürn aufwachte, hatte er das Gefühl, er stehe auf dem Kopf.“ („Das Schwanenhaus“, 1980). Walser, 1951 promoviert mit einer Arbeit über Franz Kafka, spielt hier auf Gregor Samsa und seine frühmorgendliche Verwandlung in ein „ungeheures Ungeziefer“ an.

    Walsers Idee von einem unverkrampften Nationalgefühl eckte an

    Schon mit seinem Plädoyer für ein neues deutsches, unverkrampftes Nationalgefühl hatte Walser ein hochgradiges Reizthema angesprochen. Viel mehr noch tat er dies in seiner „Sonntagsrede“ am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche, als er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennahm. Er zog gegen die „Meinungssoldaten“ und „Gewissenswarte“ zu Felde, sprach von der „Moralkeule Auschwitz“, der „Instrumentalisierung unserer Schande“ und kündigte (in teils verfänglichen Formulierungen und heiklen Anonymisierungen) die ritualisierte Rhetorik von Schuld und Sühne auf. Die daraufhin losbrechende Empörungswelle lief im Pro und Kontra monatelang durchs Land und wurde nicht zuletzt durch hochrangige Politiker angetrieben. Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, geißelte Walser als „geistigen Brandstifter“. (Das nahm er später zurück.)

    Immer wieder sah sich Walser mit dem (abwegigen) Anwurf des Antisemitismus konfrontiert. Gern wurde ihm auch das Etikett der Vergangenheitsflucht angehängt. Und das einem Autor, der sich wie kaum ein Zweiter mit dem deutsch-jüdischen Verhältnis, mit Auschwitz und deutscher Schuld auseinandergesetzt hat! Dies exemplarisch bereits Anfang der 1960er Jahre in seinen Dramen „Eiche und Angora“ und „Der Schwarze Schwan“, später vertieft u. a. in der Rede mit dem unmissverständlichen Titel „Auschwitz und kein Ende“ (1979) und dem Kernsatz „Auschwitz ist nicht zu bewältigen.“

    Vergangenheit bewältigen oder bewahren?

    Gegen die salvierende Formulierung der „Vergangenheitsbewältigung“ hat sich Walser stets gewandt. Statt dessen lag ihm die Vergangenheitsbewahrung am Herzen. Alfred Dorn in „Die Verteidigung der Kindheit“ (1991) ist besessen davon, seine Kindheit und Jugend zu sichern, um so dem „Vernichtungsprozess“ der Wirklichkeit entgegenzuwirken.

    Dieses sehr persönliche Erinnern gleicht einer Unabhängigkeitserklärung – jenseits öffentlicher Kontrolle und moralischer Vorgaben. Walser insistiert auf seiner ureigenen Empfindungsgenauigkeit. Seine Allergie gegenüber den gierigen öffentlichen Sortiermaschinen führt ins Zentrum seiner Poetik und erklärt noch seine mobilen Sprachformen und erzählerischen Ausschweifungen.

    „Es gab keinen, dem er hätte sagen können, wie er über sich dachte.“ Das gesteht Xaver Zürn im Roman „Seelenarbeit“ (1979) ein, wohlwissend um die ihn beherrschenden, widerstreitenden Gedanken und Gefühle. Zu diesen Unvereinbarkeiten jenseits der Festschreibung und moralischen Unanfechtbarkeit hat sich auch Walser bekannt. „Wenn ich etwas stiften möchte“, so der Schriftsteller, „dann wär´s das Glück der Selbstwiderlegung . . . es sollte Kultur genannt werden, dass jemand, der etwas behauptet, das, was er behauptet, auch widerlegt.“

    Walsers Werk wurzelt in der „nicht kommandierbaren Sprache“. Literatur war für ihn „von Anfang an Befreiungsenergie, als solche dient sie von selbst zum Herrschaftsabbau.“

    Walsers Beziehung zu Kritikern war schwierig

    Das Regiment des „kanalisierten Jargons“ verübelte der Schriftsteller vor allem den Kritikern. In diesem Punkt war er dünnhäutig und nachtragend, bis zuletzt. Unvergessen, als Marcel Reich-Ranicki unter der Überschrift „Jenseits der Literatur“ den Roman „Jenseits der Liebe“ (1976) in Grund und Boden verriss. Das traf den damals 49-jährigen Schriftsteller und Familienvater von vier Töchtern ins Mark. Diese Wunde verheilte nicht. Walser holte 2002 zum Gegenschlag aus: „Tod eines Kritikers“ ist eine scharf zugespitzte Generalabrechnung mit dem Machtpopanz Literaturbetrieb und seinem hemmungslosen jüdischen Starkritiker André Ehrl-König. Ähnlichkeiten mit Reich-Ranicki waren nicht unbeabsichtigt. FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher verweigerte den (bei Walser-Werken traditionellen) Vorabdruck des Buches in der Zeitung, rügte u. a. „das Repertoire antisemitischer Klischees“. Und wieder bebte die Szene im Für und Wider. Zu Recht? Man kann den Roman gewiss ohne antisemitische Anwürfe als überdrehte Literatur- und Mediensatire lesen. Man muss freilich auch zur Kenntnis nehmen, dass seinetwegen die jüdische Literatin und Auschwitz-Überlebende Ruth Klüger („weiter leben“), mit dem Autor seit den Regensburger Studientagen 1947 verbunden, die Freundschaft mit Walser aufgekündigt hat.

    Der Autor hat gar manchen seiner Romane über viele Jahre mit sich getragen, bevor sie aufs Papier kamen. Das war beim „Tod eines Kritikers“ so. Und das war bei einem seiner schönsten Bücher der Fall: „Ein springender Brunnen“ (1998), handelnd von Walsers Kindheit und dem Geburtsort Wasserburg in den Jahren 1932 bis 1945. Der Vater lässt den kleinen Johann lange Wörter buchstabieren: „Bürgschaftserklärung“, „Popocatepetl“, „Bharatanatyam“... So wächst nicht nur Johann heran, sondern mit ihm auch sein Wörterbaum. Wir werden Zeuge, wie die Erinnerung sprudelt, wie in Liebes- und Kriegswirren ein Autor heranreift, dem sich ein unerschöpflicher Sprach-Quell auftut. Das Schöne ist, dass Johann damit frühe Anerkennung findet: Er darf – an einem Sonntag in Augsburg – den ersten Preis für sein Historiendrama „Die Stadt in Nöten“ in Empfang nehmen!

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