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Nachruf auf Tina Turner: Unfassbar kraftvoll!

Tina Turner galt als Patin einer ganz neuen Generation von RhythmʼnʼBlues-Sängerinnen. Beyoncé, Rihanna oder die Rapperin Cardi B erkoren sie zu ihrem Vorbild.
Nachruf

Tina Turner – was für eine unfassbar kraftvolle Frau!

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    Die Geschichte beginnt in Nutbush, einem kleinen Dorf in Tennessee, gelegen am Highway Nummer 19. Dort gab es eine Baptisten-Kirche, ein Spritzenhaus mit Nebengebäude, das Tempolimit lag bei 25 Meilen, Motorräder waren nicht erlaubt, ebenso das Konsumieren von Whiskey. Wer dennoch dabei erwischt wurde, der riskierte es, ohne Verhandlung in den Knast zu wandern, wo man keinen Kautionsjoker ziehen konnte, sondern nur Pökelfleisch und Melasse zu essen bekam. Freitags ging es zum Einkaufen und sonntags in die Kirche, während man unter der Woche auf den Baumwollfeldern arbeiten musste und dafür zur Belohnung am Labor Day Picknick machen durfte. Alles streng durchgetaktet, und die Bürgerschaft wachte über die Einhaltung dieser Regeln. „Eine Ein-Pferd-Stadt“ erinnerte sich ein junges Mädchen, das dort seine Kindheit verbrachte. „Man muss aufpassen!“

    Ihr Mann schlug Tina Turner regelmäßig, mit geschwollenem Gesicht und blutigem Kleid floh sie

    Irgendwann hatte Anna Mae Bullock die Schnauze voll. Sie ließ Nutbush, wo sie bei ihrer strengen und unnahbaren Oma aufwuchs und als Kind im Kirchenchor zum ersten Mal wegen ihrer klaren, kraftvollen Stimme hervorgestochen war, hinter sich, nicht nur die äußeren, sondern auch die inneren Ortsgrenzen, und wollte in der restlichen, vermeintlich besseren Welt einfach ihr Glück als Sängerin versuchen. Später, mehr als 20 Jahre danach, schrieb sie „Nutbush City Limits“, einen Song über das verhasste Kaff, über ihre Gefühle, ihr Unwohlsein in dieser spießbürgerlichen einschnürenden Blase, in der das Rassentrennende so normal war wie der Kirchgang oder häusliche Gewalt.

    Inzwischen hieß sie Tina Turner, war mit Ike, einem Gitarristen, verheiratet und hatte es zumindest nach außen geschafft, war ein veritabler Rockstar geworden, jemand, dem man genügend Aufmerksamkeit schenkte und der sich abhob aus der Masse. Aber innen drin hatte sich nichts verändert. Ihr Ehemann, ein Trinker, Junkie und Choleriker, schlug und vergewaltigte sie nach Belieben. Ein Mann alter Schule, der es gewohnt war, Frauen zu benutzen, sie als seinen Besitz zu betrachten. Später sollte die Sängerin in ihrer Biografie schreiben, dass sie sich an keinen Tag ohne mindestens ein blaues Auge erinnern konnte.

    Sängerin Tina Turner bei ihrem Auftritt am 2.6.1995 in München.
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    12 Bilder
    Die Sängerin Tina Turner ist am Mittwoch im Alter von 83 Jahren gestorben. In den 1980er Jahren feierte sie als Solokünstlerin ihren Durchbruch. Das ist ihre Karriere in Bildern.

    Nach einer besonders heftigen Attacke floh Tina im Juli 1976 mit zugeschwollenem Gesicht, blutigem Kleid, 36 Cent Bargeld und einer Kreditkarte aus dem gemeinsamen Hotelzimmer in Dallas/Texas. Ihr Peiniger hatte noch versucht, seinen Bühnenstar mit Morddrohungen und Brandanschlägen auf das Haus in Los Angeles, in dem sie Zuflucht mit den vier halbwüchsigen Söhnen suchte, zur Rückkehr zu zwingen. Nach der Scheidung 1978 lebte sie zeitweilig von Sozialhilfe. Die Talsohle der Demütigung.

    Auch das gehört zur Geschichte: ihre unfassbare Kraft, in scheinbar ausweglosen Situationen den klitzekleinen Spalt in der Türe zu erhaschen, hindurchzugehen, aus der kleinen Anna Mae Bullock irgendwann Frau Turner und dann „Tina, Simply The Best“ erwachsen zu lassen, die Zuversicht und der Mut, an sich zu glauben – in vielen Momenten als wirklich einziger Mensch –, der Hölle zu entfliehen, im sicheren Glauben, irgendwann wirklich den Himmel zu erreichen. 

    Mit 69 zeigte Tina Turner: Aus dem Schutt des Lebens lassen sich noch schöne Häuser bauen

    Tina Turner traf viele richtige Entscheidungen. Die Trennung von Ike war ihre schmerzhafteste und mithin beste. Weil sie den Weg zum Superstar ebnete; vom geprügelten, unterdrückten kleinen Weibchen zur spirituell geläuterten Frauenrechtlerin, zur vielleicht größten Rocksängerin aller Zeiten, einer der wirkmächtigsten weiblichen Figuren an der Schnittstelle des Millenniums, mehrmals auferstanden aus Ruinen. Dass sie dabei auch noch zur feministischen Ikone avancierte, einer Königin mit selbst geschaffenem Reich, einer medialen Sensation, mit der sich das Maracana-Stadion in Rio de Janeiro problemlos mit 180.000 Leuten füllen ließ, und sogar einer Schauspielerin in der Rockoper „Tommy“ als Acid-Queen oder in erfolgreichen Blockbuster-Filmen wie „Mad Max“, war retrospektiv fast eine logische Folge.

    Tina Turner gelang der Weg von einer geprügelten und unterdrückten Frau zur vielleicht größten Rocksängerin aller Zeiten, zu einem Vorbild für andere. Nun ist  sie mit 83 Jahren gestorben.
    Tina Turner gelang der Weg von einer geprügelten und unterdrückten Frau zur vielleicht größten Rocksängerin aller Zeiten, zu einem Vorbild für andere. Nun ist sie mit 83 Jahren gestorben. Foto: Imago Stock&People

    Tina galt als der lebende Beweis dafür, dass im angeblichen Jugendwahn des Pop und Rock jenseits der Midlife-Crisis doch noch jede Menge geht. Wie sie bei ihrer allerletzten Tournee 2009 in der Rolle der erotisch aufgeladenen, sich selbst auf der Bühne genießenden, souveränen Künstlerin – mit 69 dreimal so alt war wie ihre Mittänzerinnen (die nach der Show erschöpfter als sie waren) – agierte, das bescherte jedem Best Ager die Zuversicht, dass sich aus dem Schutt des Lebens, der sich bisweilen vor einem auftürmt, tatsächlich noch viele schöne Häuser bauen lassen.

    Dass ihre Karriere derart glamourös verlief, hat eben auch damit zu tun, dass Anna Mae alias Tina zeitlebens tiefe Täler durchschreiten musste, um das Unwahrscheinliche zu ermöglichen, nämlich zu überleben, und dabei noch zu demonstrieren, welch einzigartige, charismatische Künstlerin sie doch sein konnte. Denn der Schuttberg, den sie vor sich herschob, war ein riesengroßer und lieferte genügend Stoff für einen Film mit Angela Bassett in der Hauptrolle („Whatʼs Love Got To Do With It“; 1993) sowie gleich zwei Biografien und ein Musical.

    1962 wurde aus Anna Mae Bullock Tina Turner

    Der erste Stein fiel bereits am Tag ihrer Geburt, am 26. November 1939, an dem sie als jüngere von zwei Töchtern von Zelma Currie und Floyd Richard Bullock, einem Baptisten-Diakon, im Keller des Haywood Memorial Hospitals in Brownsville die Neonröhren des Kreißsaals erblickte. Das tatsächliche Licht der Welt sahen dagegen die weißen Säuglinge auf der Entbindungsstation im Erdgeschoss. Ihr späterer Lebensraum: ein Landstrich der USA, in dem schwarze Menschen buchstäblich rund um die Uhr und Tag für Tag Gefahr liefen, Opfer von rassistischer Gewalt zu werden. 

    Ike Turner befreite sie tatsächlich; aus Nutbush, aus der Umklammerung der Familie – von einer in die nächste Abhängigkeit. 1958, mit gerade einmal 19, hatte sie den Draufgänger, das Alphatier, kennengelernt. Für seine „Kings Of Rhythm“ hatte Ike zunächst eine Backgroundsängerin gesucht, dann seine neue Errungenschaft kurzerhand als Solistin auf den Schild gehoben, um 1960 „A Fool In Love“ aufzunehmen.

    Der Gesang der neuen Frontfrau glich in jenen Jahren einem inbrünstigen animalischen Urschrei, eher vital und gefährlich als anmutig, schlechterdings eine plumpe Parodie schwarzer Sexualität, mit Annas wilder Mähne als grellstem Stereotyp. Bei Ike, dem Pimp und Zuhälter im Hintergrund, war indes längst das Kopfkino angesprungen. Seine neue Eroberung sollte fortan fast täglich auf der Bühne stehen, in superkurzen Paillettenröckchen, mit choreografierten Tanzschritten, flankiert von der adretten Gesangsgruppe Iketts. Eine erotische RockʼnʼRoll-Fantasie par excellence.

    Ike and Tina Turner.
    Ike and Tina Turner. Foto: dpa (Archivbild)

    1962 heirateten beide, aus Anna Mae Bullock wurde Tina Turner. Sie coverten „Proud Mary“ von Creedence Clearwater Revival, das sich dank Tina auch später zu einer elektrisierenden Woge entwickeln sollte, und später mithilfe von Phil Spector noch „River Deep, Mountain High“. Das gab Chartnotierungen, Engagements und kleinere Erfolge. Aber schnell wurde klar, dass Ike und Tina Turner nicht an Sonny and Cher herankamen, die Darlings der hippiesk gesinnten Mainstream-68er in den USA. Dafür war der männliche Part des Duos schlicht zu schwach. Dennoch entdeckte auch das weiße Rock-Publikum zunehmend den Funk der Turners. Die Rolling Stones buchten sie als Opener für ihre Tournee 1969. Dennoch begann schon in jenen Jahren ihr Überlebenskampf, der dringende Wunsch, abermals zu fliehen, wurde mit jedem Schlag von Ike Turner in ihr Gesicht größer.

    Tina Turners "Privat Dancer"-Album entpuppte sich als Goldschatz, sie füllte Stadien

    Aber wie sollte das gelingen, mit fast 40, einem Alter, das für die meisten ihrer Kolleginnen karriereperspektivisch den sicheren Tod bedeutete? In ihren Memoiren schrieb sie darüber: „Ich musste nicht überleben, denn ich war ja schon tot. Ich wollte nur meine Freiheit, über mich selbst bestimmen, herausfinden, was ich eigentlich noch wollen könnte.“ Anfang der 1980er Jahre trat der nächste Mann in ihr Leben, ein guter diesmal: Roger Davies, ein Musikmanager, der an sie glaubte. Tina Turner erfand sich noch einmal neu. Ihr „Privat Dancer“-Album entpuppte sich als Goldschatz, mit rauchigem Timbre sang sie autobiografische Songs wie „Show Some Respect“, bei Konzerten trat sie mit Freunden wie David Bowie, Mick Jagger oder Bryan Adams auf – nicht mehr in Clubs, sondern in Stadien. Haltung war für sie von da an wichtiger als Alter.

    Sie galt als Patin einer ganz neuen Generation von RhythmʼnʼBlues-Sängerinnen, Beyoncé, Rihanna oder die Rapperin Cardi B erkoren sie zu ihrem Vorbild. Keine konnte so glamourös stolzieren wie das Mädchen aus Nutbush City, keine füllte die Rolle der reifen Frau und Kämpferin so sexy und doch würdevoll aus. Im Buddhismus und ihrem deutschen Mann Erwin Bach hatte sie ganz zum Schluss tatsächlich noch ihr spätes Glück gefunden. Mit ihrem beispiellosen großen Mut und dem Credo, dass es möglich sei, Gift in Medizin zu verwandeln, ertrug sie in den letzten Jahren, inzwischen Schweizer Staatsbürgerin, auch ihre körperlichen Unzulänglichkeiten, ihren Schlaganfall, Nierenversagen und den Darmkrebs. Bis zum Mittwoch. In Küsnacht bei Zürich ist Tina Turner im Alter von 83 Jahren gestorben.

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