Erfahrene Besucherinnen und Besucher von Konzerten der Rolling Stones sind mit dem Ritual vertraut. Zur Halbzeit der Show stellt Mick Jagger die Mitmusiker vor. Von der Background-Sängerin über die Bläser-Sektion bis hin zu seinem Kompagnon Keith Richards. Den lautstärksten, am längsten anhaltenden Beifall erhielt dabei immer einer, der ansonsten im Hintergrund agierte, der nie Schlagzeilen machte, der dafür berühmt wurde, dass er nie berühmt sein wollte.
Charlie Watts, der Schlagzeuger der Stones, ist im August 2021 verstorben. Jetzt ist "Charlie’s Good Tonight" (Ullstein Verlag) erschienen, das erste Buch über sein Leben, eine "autorisierte Biografie" wie es im Untertitel heißt. Der unscheinbare Zusatz "autorisiert" gibt im Werk des englischen Musikjournalisten Paul Sexton den Ton vor. Autorisiert bedeutet ja, der Inhalt ist von der Hauptperson oder in diesem Fall von der Familie "abgesegnet". Das mag ein Segen sein, da autorisierte Biografien keine wilden, unbelegbaren Gerüchte verbreiten. Das kann ein Fluch sein, weil die freundliche Überwachung zwar Faktentreue fördert, genauso aber auch Auslassungen oder Schönschreiberei.
Die große Krise des Charlie Watts kommt nur auf wenigen Seiten vor
Im Fall von Charlie Watts bedeutet dies, die große Krise in seinem Leben kommt nur auf wenigen Seiten und in vagen Worten zur Sprache. Mitte der achtziger Jahre war der bis dahin kreuzbrave Trommler plötzlich den harten Drogen verfallen. Warum und wie er sich befreite – das bleibt dezent im Ungefähren.
Stattdessen berichten Freunde, Verwandte, Weggefährten ausführlich und liebevoll über seine zahllosen harmlosen Spleens. Watts war ein begeisterter Sammler – von allem. Ob Andenken aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, Gemälde, Skulpturen, Porzellan und Tafelgeschirr, edle Anzüge, handgefertigte Schuhe – er häufte alles an. Er kaufte Oldtimer-Autos, setzte sich hinein um den Klang des Motors zu hören. Gefahren hat er sie nicht. Er besaß keinen Führerschein. Er war ein liebenswerter, freundlicher Kauz. Manchmal mögen seine Marotten auch anstrengend gewesen sein. Aber das deutet Sextons "autorisierte Biografie" nur an.
Das Buch verliert sich über weite Strecken in großartigen Anekdoten
Das Buch verliert sich über weite Strecken in teils großartigen Anekdoten. Zum Beispiel: Ein weiblicher Fan ging nach einer Pressekonferenz auf Charlie zu, wollte unbedingt ein Andenken von ihm. Er überreichte ihr den Stuhl, auf dem er gesessen war.
Charlie Watts liebte Jazz-Musik, sah die Stones vor allem als Job, hörte privat nie Stones-Platten, wollte nach jeder Tour die Band verlassen und zuhause bleiben. Engagierte sich aber dann doch, wenn es um die optische Gestaltung der Konzerte ging.
Was auffällt: Aus der engsten Familie kommen in dem Buch nur Tochter Seraphina und Enkelin Charlotte zu Wort. Von Ehefrau Shirley gibt es keine aktuellen Zitate. Warum das so ist, wird nicht erklärt. Eine "autorisierte" Biografie…
Eine der größten Liebesgeschichten der Rockmusikgeschichte
Dabei verband Shirley und Charlie doch eine der größten Liebesgeschichten der Rockmusikgeschichte. Die beiden hatten sich schon 1961 kennen gelernt, heirateten 1964, blieben zusammen bis zu Charlies Tod. Shirley machte sich als Züchterin von edlen Pferden einen Namen. Und sie hielt ihren Ehemann auf dem Boden, wenn tatsächlich mal die Gefahr aufkam, dass er sich für einen Star halten wollte. Dann orderte sie ihn zum Geschirrabspülen.
Auch Shirley Watts ist vor kurzem verstorben. Bandkollege Ronnie Wood schrieb in einem Nachruf, es sei tröstlich zu wissen, dass sie jetzt mit ihrem geliebten Charlie wiedervereint sei.
Paul Sexton: Charlie’s Good Tonight. Ullstein Paperback, 2022. 384 Seiten, 24,99 Euro