"Lebenswerk". So etwas klingt schrecklich. Wie "Schlussbilanz". Was hat er alles geleistet? Oder: Welche Fehler hat er gemacht, was hat er verbockt? Ein 80. Geburtstag eignet sich trefflich dazu, die Lupe zu schärfen. Viel kommt ja sowieso nicht mehr, oder? Aber wer Reinhard Mey kennt, ahnt schon, dass es das nicht schon gewesen sein muss.
Auch mit knapp 80 geht Reinhard Mey noch auf Tour
Der Mann tourt auch im Alter wie eh und je, erst vor wenigen Wochen wieder durch 18 Städte, alles Bringschulden aus der Zeit der Pandemie. Auf seiner Homepage nannte er es die "Tournee meines Lebens" – und die Bühne ist nun mal sein Leben. Dort geschieht immer alles nach dem gleichen Ritus: Alleine auf einem Barhocker, nur mit einer Klampfe bewaffnet, sitzt er da in großen Multifunktionshallen, obwohl seine Musik eher für kleine Clubs ausgelegt ist. Er feiert das Normale, seine Fans feiern ihn. Unvermindert veröffentlicht er im zweijährigen Turnus neue Alben, unglaubliche 28 an der Zahl. Und sie kommen immer im schönen Monat Mai (Mey?) auf den Markt.
Dahinter tarnt sich ein Gewohnheitstier. Liebgewonnene Abläufe sorgen nun mal für Struktur und geben Sicherheit in einer Zeit, in der vieles nicht mehr so ist wie damals, als alles anfing. Nur Reinhard Mey ist immer noch Derselbe. Wobei die Meinungen darüber auseinandergehen, was genau er ist. Barde? Liedermacher? Chansonier? Schnulzensänger? Ein Heile-Welt-Romantiker? Auf keinen Fall ein Schlagerfuzzi, denn das empfindet Mey als Beleidigung, weshalb er 1999 den Schallplattenpreis Echo in der Kategorie "Deutscher Schlager" vehement ablehnte (obwohl er einige Male in der ZDF-Hitparade auftrat).
Reinhard Mey singt das, was andere gerade denken
Womöglich ist er aber auch ein Opportunist, einer, der sich Strömungen des Zeitgeistes zu eigen macht, um daraus Lieder zu stricken, die Menschen bewegen, und dessen Songtitel zu Sprichwörtern wurden. Er singt das, was andere gerade denken – und hören wollen.
Mey schrieb bis zum heutigen Tag mehr Lieder als die Beatles, verkaufte mindestens so viele Platten wie alle anderen Liedermacher im deutschsprachigen Raum zusammen. Und doch kann man sich kaum einen Prominenten vorstellen, der bodenständiger und – ja, sympathischer ist. Der aufreizend normale Herr Mey ist weder Diva noch Intellektueller, eher eine Leitfigur ohne radikale Ideen. Er will nur sein Leben genießen, was ihm unverschämterweise auch noch zu gelingen scheint. Und Optimismus ist in einem Land, in dem Selbsthass stets einen Nährboden findet, immer die größte Provokation.
1942 kam Reinhard Mey in Berlin-Wilmersdorf zur Welt
Die Saat dafür legten seine Eltern, die den Jungen, der am 21. Dezember 1942 "als es splitterte und krachte" (Mey) in Berlin-Wilmersdorf das Licht der Welt erblickte, mit Liebe, Langmut und Klugheit erzogen. Schon mit zehn Jahren schickten sie ihn alleine im Zug zum Schüleraustausch nach Frankreich, wo er die Sprache erlernte und von der französischen Musik, den Chansons infiltriert wurde. Dass er im Nachbarland noch heute als Frédérik (die Übersetzung seines zweiten Vornamens) Mey fast kultisch verehrt wird und 1968 als erster Ausländer den "Prix International de la Chanson Française" gewann, machte ihn immun gegen Angriffe der Polit-Agitatoren, denen er in Zeiten der Revolte schlicht zu soft, zu harmlos schien.
Ungeachtet dessen entstand ein Repertoire von dem Mey (der sich übrigens mit Alfons Yondraschek noch ein zweites Pseudonym leistet) immer noch in seinen Konzerten zehrt. Da erklingen Songs wie "Gute Nacht Freunde", "Die heiße Schlacht am kalten Büffet" und natürlich sein größter Hit, die Hymne auf die Startbahn Null-Drei, auf der der Wind stets von Nord-Ost weht und irgendjemand in der Luftaufsichtsbaracke Kaffee kocht: "Über den Wolken". Obwohl dieser Song von 1974 ursprünglich nur die B-Seite der Single "Mann aus Alemannia" sein sollte.
Reinhard Mey gab sich immer wieder auch politisch
Doch wer Mey schätzt, muss zugeben: Natürlich bietet seine Kunst auch Angriffsflächen. Es ist der betroffene Tonfall und der moralische Zeigefinger, mit dem er aktuelle Ereignisse kommentiert, die Pose des unerschrockenen Kritikers, für die er sich vom Publikum selbst für wohlfeile Aussagen bejubeln lässt, mit der er aneckt. Mey überzeugt dann am meisten, wenn er über Persönliches singt und sich nicht in der Abteilung "vertonte Leitartikel" betätigt. Das dickste Fettnäpfchen besuchte er 1972 mit dem Stück "Annabelle", einem Spottlied über eine Feministin, mit dem sich der gute Reinhard ohne Not in die reaktionäre Ecke manövrierte. Immerhin entschuldigte er sich 26 Jahre später bei Annabelle in "Der Biker" und gestand der Frau: "Deine Ideale, will mir heute scheinen, waren gar nicht so weit weg von meinen, doch das zuzugeben, war ich viel zu blöd und stolz."
Als Hauptinspirationsquelle dient ihm seine Familie. In allen Variationen hat der Barde sie besungen, das Glück, das sie bedeuten kann, ebenso wie die Sorge. Dennoch zog er sich nie ins Private zurück. 1972 überraschte er mit "In Tyrannis", einem beklemmenden Lied über die Grausamkeit von Folter. Im Bundestagswahlkampf 1990 zählte er zu den Promis, die den SPD-Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine unterstützten. Im April 2022 unterzeichnete er den offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz, der sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine aussprach.
Reinhard Mey berührt vor allem mit persönlichen Liedern
Mey war nie ein Agitator, kein Degenhardt, kein Süverkrüp, die er 1964 beim Folk-Festival auf Burg Waldeck kennenlernte. Aber immerhin ist er ein Freund von Hannes Wader und Konstantin Wecker, und irgendwie dann doch links. "Wenn links das Gegenteil von rechts ist, ja. Wenn es links ist, Solidarität mit den Schwächeren nicht nur zu zeigen, sondern auch zu leben, dann ja", sagt er selbst. Sein Anliegen: trösten, lieben, freuen. Und er lehrt das Zuhören. Etwa im Friedenslied "Meine Söhne geb' ich nicht". Das wäre auch zu viel des Schlechten: ein Eingriff in seine Schutzzone, die Familie.
Sohn Frederik arbeitet als Pilot, Tochter Viktoria begleitet ihn auf Tourneen als Sängerin, seine zweite Frau Hella ist seine Muse. Wer etwas über sie wissen will, erfährt es allenfalls auf Meys Homepage. Weil er grundsätzlich Distanz zur Boulevardpresse hält. Das galt auch für den Schicksalsschlag, der ihn 2009 ereilte. Damals fiel sein 27-jähriger Sohn Maximilian wegen einer nicht erkannten Lungenentzündung in ein Wachkoma und starb fünf Jahre später. Doch der Tod ließ den Mann, der einst wie Orpheus singen wollte, nicht verstummen. In "Dann mach's gut" schilderte der Vater später seine letzte Begegnung am Bahnhof mit seinem geliebten "Haderlumpen". Noch so ein Meisterwerk klingender Erzählkunst: Man fühlt mit ihm den Schmerz, die Liebe, das Versöhnen mit dem Leben. Keinem gelingt das so wie ihm.