„I have this thing where I get older but just never wiser“, lamentiert Taylor Swift in der Eröffnungszeile von „Anti-Hero“ mit durchaus leichtem Augenzwinkern, sie werde bloß älter, doch nicht klüger. Aber kann man so nicht stehen lassen? Nein. Man muss ihr vehement widersprechen. So erwachsen und dabei verspielt, so abgeklärt und dabei selbstironisch wie auf ihrem zehnten Studioalbum klang Taylor Swift noch nie. „Midnights“ ist das Werk einer gereiften Künstlerin, die sich mehr als je zuvor von dem Druck in ihrem Metier befreit hat und die Musik macht, die sie machen will.
Die kommerziell erfolgreichste und am intensivsten unter dem Brennglas einer promibesessenen Öffentlichkeit stehende Popsängerin und Songschreiberin hätte stilistisch überall hingehen können mit „Midnights“. Ende August kündigte die 32-Jährige das Album an, aber über den Sound von „Midnights“ konnte man nur spekulieren. Alles blieb unter Verschluss. Würde Taylor Swift also zurückkehren zum prallen Zuckerwattesound ihres 2019er Albums "Lover", würde die auf dem Dorf in Pennsylvania groß gewordene und heute über ein Vermögen von einer geschätzten halben Milliarde verfügende Swift noch einmal ihre Wurzeln besuchen?
Ein kraftvolles Bekenntnis für Taylor Swifts Liebe zu Joe Alwyn
Tatsächlich stellt sich "Midnights" – auf dessen Cover Taylor Swift an den französischen 70er-Look einer Françoise Hardy oder Jane Birkin erinnert – als weiterer überraschender Hakenschlag in dieser spektakulären, nun auch schon seit anderthalb Jahrzehnten währenden Weltkarriere heraus. Das Album, soundlandschaftlich vielleicht ihrem ersten Popgroßwerk "1989" (2014) am nächsten stehend, klingt bemerkenswert unaufdringlich, lässig, bisweilen gar beiläufig. Kein Bombast, keine Knalleffekte, kein Feuerwerk, sondern wirklich schlaue, schlüssige, selbstbewusste Songs von einer Frau, die es – angesichts von Neidern, Frauenfeindlichkeit, Doppelmoral – auch nicht immer leicht hat, aber sich die Lust an ihrem Leben nicht länger nehmen lässt.
Insbesondere die Liebe nimmt auf "Midnights" ungewohnt breiten Raum ein. Seit sechs Jahren ist sie mit dem englischen Schauspieler Joe Alwyn liiert. Das gemeinsame Glück schimmert deutlich durch. "Lavender Haze", das von Beats und – ansonsten auf der Platte keine Rollen spielenden – stimmverzerrenden Soundeffekten getragen wird, ist ein kraftvolles Bekenntnis zu dieser Beziehung trotz all der Negativität, mit der das Paar bombardiert wurde.
"Snow On The Beach", auf dem die Kollegin Lana Del Rey mitsingt, ist ein zärtliches, eher gehauchtes und gesanglich bezauberndes Loblied ans Verlieben. Das verträumte, an Lorde erinnernde "Maroon" handelt, in typischer Taylor-Detailverliebtheit, vom Kennenlernen an einem Ausgehabend in New York. Der Song ist sowieso einer der besten der Platte, Swift wirkt hier wie eine gute Freundin, die einem Intimitäten aus ihrem Leben ins Ohr flüstert. Das am meisten an die "Folklore"-Phase erinnernde, fast akustische "Sweet Nothing" schließlich haben Swift und Alwyn gar gemeinsam geschrieben.
Swift thematisiert auch ihre Ängste und Unsicherheiten
Natürlich scheint auf „Midnights“ nicht nur die Sonne. Swift thematisiert auch ihre Ängste. Im kernigen „Anti-Hero“ bekennt sie: „Sometimes I feel that everyone is a sexy baby/ And I’m a monster on a hill“, im fein melodischen „You’re On Your Own, Kid“ reist Swift zurück in die Sehnsuchtssommer ihrer Jugend, im finalen „Mastermind“ beklagt sie sich, niemanden zum Spielen gehabt zu haben. Wo die Selbstzweifel sind, wächst auch die Selbstbehauptung. An mehreren Stellen tritt Swift antifeministischen Rollenvorstellungen in den Hintern. In „Labyrinth“ schimpft sie, die Leute würden immer noch den „50er-Jahre-Mist“ von ihr fordern. Über ihr altes Männer-verschlingendes Böse-Hexen-Image kann sie endlich lachen („Got a long list of ex-lovers/ They’ll tell you I’m insane“).
Der Sound ist anspruchsvoll, manchmal wie auf dem an Billie Eilish erinnernden „Midnight Rain“ auch düster, hier und da wünscht man sich etwas weniger betörendes Dahinplätschern und etwas mehr von dem Biss, mit dem sie in „Karma“ (mutmaßlich) Ex-Freund Jake Gyllenhaal verspeist. Doch trotz leichter Mängel ist „Midnights“ eines der charismatischsten und besten Popalben des Jahres. Taylor Swift stellt unter Beweis, dass sie in der Ära des von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz getriebenen Musikkonsums ein Leuchtturm ist. Niemand in den Charts oder Stadien besitzt diese Palette an Ausdrucksmöglichkeiten. Niemand außer Swift kann auch mit dem zehnten Album noch für eine kleine Sensation sorgen.