Wer schon mal im 2013 auf der Stockholmer Insel Djurgården eröffneten „Abba – The Museum“ gewesen ist, weiß: Wir sind alle ein bisschen Abba. Gleich am Eingang steckt man den Kopf durch eine Pappwand und kann sich aussuchen, ob man in diesem Fotomoment nun Agnetha Fältskog (71), Anni-Frid Lyngstad (75), Björn Ulvæus (76) oder Benny Andersson (74) sein möchte.
Später geht es in eine schalldichte Kabine zum Karaoke-Singen. Diejenigen, die sich trauen, wählen meistens „Dancing Queen“, das vielleicht euphorischste, aufbauendste, kraftvollste und in jeder Lebenslage mitsingtauglichste aller Abba-Lieder, im nächsten Raum wird man eingeladen, auf einer kleinen Bühne als fünftes Mitglied zwischen den vier Abba-Hologrammen herumzuturnen. Für die meisten Besucher am Faszinierendsten aber ist: Das orangefarbene, wunderbar altmodische, Wählscheibentelefon, von dem es heißt, man solle unbedingt den Hörer abnehmen, wenn es hin und wieder klingelt – denn am anderen Ende der Leitung sei eines der vier Abba-Mitglieder.
Abba drängt mit Macht zurück in die Mitte unseres Lebens
Nun haben sie tatsächlich angerufen – und die Menschheit ist begeistert rangegangen. 40 Jahre nach dem letzten Studioalbum „The Visitors“ und 39 nach dem Verkünden einer Pause von unbestimmter Dauer aufgrund eines allgemeinen Erschöpftseins nach einem Jahrzehnt als schwedisches Pop-Weltwunder, drängt die mit fast 400 Millionen verkauften Alben zweiterfolgreichste Popgruppe Europas aller Zeiten (hinter den Beatles) mit Macht und einer genial ausgefuchsten Comeback-Kampagne zurück in die Mitte unseres Lebens. An Abba führt in diesen ansonsten ja etwas trüben Tagen kein Weg vorbei.
Mit „Voyage“, dem neunten und – glaubt man den Ausführungen von Andersson und Ulvæus – definitiv denn auch letzten Abba-Studioalbum, nehmen uns die zwei Ex-Paare Anni-Frid/ Benny und Agnetha/ Björn, die sich Anfang der 70er ver- und Ende der 70 entliebten, mit auf die Reise in ihr popmusikalisches Universum. Dort hat sich, wie in der guten Stube eines altgewordenen Onkels, den man zum ersten Mal nach langer Zeit wieder besucht, nichts verändert.
"Voyage" hat eine konsequent nostalgische Note
Wer befürchtet hatte, Abba würden sich an irgendwelche Entwicklungen im Pop der vergangenen vierzig Jahre anhängen, kann also aufatmen. „Wir sind absolut blind gegenüber Trends“, sagte Ulvæus dem britischen Guardian. Die moderne Popmusik sei für ihn keine taugliche Inspirationsquelle, und auch Andersson insistiert, dass ihn der Pop von heute weder anspreche noch berühre.
Das 21. Jahrhundert hat auf „Voyage“ also nichts verloren, was dem ganzen Unterfangen eine konsequent nostalgische Note verleiht. Die vier Abbas, heute dem Vernehmen nach beste Freunde, baden noch immer im selben Wasser, das sie vor bald einem halben Jahrhundert in die Wanne gelassen haben. Damals war die Melange aus Disco, schwedischem Folk, Electro-Pop, Country und unzähligen liebevoll-handgemachten Details, visionär und neu. Heute befällt einen beim Hören der neuen Lieder gleich überfallartig eine tiefe Sentimentalität. „Voyage“ ist kein Aufbruch, sondern ein finales Ankommen.
Vielleicht ist es nicht fair, die neuen Songs mit den alten zu vergleichen. Abba löst schließlich bei vielen von uns die Erinnerung an eine geborgene Kindheit aus. Der Verfasser dieser Zeilen war neun, als er sich mit „Super Trouper“ das erste eigene Musikalbum kaufte – auf Kassette, die ziemlich schnell kaputtgenudelt war. Solche musikalischen Tiefenprägungen sind natürlich nicht zu toppen. Aber etwas mehr hätte man sich von den zehn neuen Liedern auf „Voyage“ dann doch erhoffen dürfen.
Bei der Enthüllung der Songs kannte der Enthusiasmus keine Grenzen
Als Björn und Benny (die beiden Damen beteiligen sich auf ausdrücklichen, eigenen Wunsch nicht an den PR-Maßnahmen) am 2. September via Livestream das vollumfängliche Comeback offiziell machten und die zwei ersten neuen Songs enthüllten, kannte der Enthusiasmus schließlich noch keine Grenzen. „I Still Have Faith In You“ ist eine bezaubernde Ballade, musikalisch im Geist von „The Winner Takes It All“. Es geht ums Älterwerden, um Verlässlichkeit und das Sich-treu-bleiben. Pathos und Patina klatschen sich in der gut fünf Minuten lange, wohltuend naiven und doch lebenstiefen Nummer ab. Frida und Agnetha erheben sich stimmlich ad hoc über alle Zweifel, Abba at its best.
Noch glorioser: „Don’t Shut Me Down“. Die langsame, unverkennbar an „Dancing Queen“ angelehnte Disco-Nummer hat das Kaliber eines Klassikers. Die beiden Lieder waren auch die ersten, die Ulvæus/ Andersson 2017 komponierten – seinerzeit noch für eine nie realisierte TV-Show. Aus dem übrigen Material, das nach und nach in Bennys Studio „Riksmixningsverket“ auf dem Stadt-Inselchen Skeppsholmen entstand, ragt allein „I Can Be That Woman“ wirklich heraus.
Die Country-Klavierballade trifft das Herz mit wundervoller Melancholie. Es geht um ein Paar, das um seine Liebe kämpft und um einen Hund namens Tammy, der an den Streitereien seiner menschlichen Mitbewohner und Mitbewohnerinnen fast zerbricht. Das ist feinstes Tränendrüsenmaterial. Ganz fetzig wiederum gelingt „Keep An Eye On Dan“, das am Schluss „SOS“ zitiert sowie vorher „Voulez-Vous“ und das im Wesentlichen den traurigen Moment beschreibt, in dem das Scheidungskind vom einen Elternteil zum anderen gereicht wird.
Man findet für viele neue Stücke Entsprechungen bei den alten
Man kann das Spielchen weiterspielen, und jedem neuen Song einen oder mehrere alte zuordnen, das bereits 1978 entstandene „Just A Notion“ etwa mit „Ring Ring“ vergleichen. Oder die finale, mit dem Stockholm Concert Orchestra aufgenommene, „Ode To Freedom“ an „Thank You For The Music“ messen. Tatsache ist, dass Stücke wie die keltische und zumindest fetzige Dudelsack-Marschmusik-Nummer „When You Danced With Me“, die allzu betulich flötende Bullerbü-Ballade „Bumble Bee“ oder das, mit Verlaub, kitschgetränkte und mit einem Kinderchor aufgemotzte, Weihnachtslied „Little Things“ keine kompositorischen Großleistungen sind.
Aber, und das macht dieses Comeback so einzigartig: Es ist egal, wie gut oder wie medioker die neuen Songs sind. Alle lieben Abba und so gut wie alle finden es auch phantastisch, dass diese Lieblingsschweden nicht nur gesund und gut gealtert sind, sondern eben: wieder da. Mit „Voyage“ findet schließlich eine Renaissance ihren vorläufigen Höhepunkt, die seit langem schon im Gange ist.
An ihrer Unsterblichkeit arbeiten Abba nicht erst seit gestern. Nach der einstweiligen Trennung und einigen Jahren des kollektiven Abba-uncool-Findens drohte kurzzeitig die Vergessenheit, doch mit einem wahren Dauerfeuer an kreativen Attacken haben es die geschäftstüchtigen Abba-Männer seit den frühen Neunzigern geschafft, immer obenauf zu schwimmen. „Abba Gold – Greatest Hits“, 1992 erschienen, findet sich in jedem Haushalt, es folgten das Musical „Mamma Mia!“, diverse Filme, das Museum, und nun auch noch: Die Avatar-Show.
In einer eigens erbauten, 3000 Besucher fassenden Arena im Ost-Londoner Queen Elizabeth Olympic Park werden ab dem 27. Mai 2022 computergenerierte Abziehbilder der echten Abbas auftreten. Federführend bei „Abba Voyage“ ist „Industrial Light and Magic“, die Firma von „Star Wars“-Erfinder George Lucas. Und man darf, immerhin unterfüttert von einem 10-köpfigen Menschen-Orchester, wohl nicht weniger erwarten als das bislang farbenprallste und ausgereifteste KI-Erlebnis, das die Konzertwelt je gesehen hat. Abba, eingefroren im Jahr 1979, für immer jung.