Eine Frau nachts allein im Wald, von Ängsten getrieben, scheinbar im Wahn fabulierend – eine Szene wie geschaffen für die Oper. Die gibt es tatsächlich, „Erwartung“ heißt das Stück, Arnold Schönberg hat 1909 die Musik geschrieben zu einem Text von Marie Pappenheim. Ein Klassiker des expressionistischen Musiktheaters, wenngleich fast öfter im Konzert zu hören (im Herbst erst bei den Augsburger Philharmonikern) als in szenischer Einrichtung zu sehen. Denn die halbstündige „Erwartung“ ist allein nicht abendfüllend, es singt lediglich eine Sängerin, und von Handlung ist gar nicht zu reden, die Oper ist ein einziger innerer Monolog: Offen bleibt, wer da eigentlich was und warum genau tut oder getan hat.
Das verspricht "Dido and Aeneas" an der Bayerischen Staatsoper
Die Bayerische Staatsoper kann das nicht schrecken, und einen ihrer bevorzugten Regisseure ebenso wenig: Krzysztof Warlikowski hat Schönberg jetzt mit Henry Purcells „Dido and Aeneas“ zusammengespannt. Nicht, indem er dem Monodram eine weitere Kurzoper vorangestellt hätte; nein, Warlikowski schweißt die beiden Stücke zusammen, das eine Geschehen geht ins andere über, und statt einer Pause gibt es ein eigens komponiertes Interludium. Wahrlich ein gewagtes Unternehmen, auch, weil hier höchst gegensätzliche Welten, barockes Musiktheater (Purcell) und atonale Moderne (Schönberg), aufeinandertreffen.
Was da an dem Angstmonolog der namenlosen Frau, was an der in antike Mythologie zurückreichenden Geschichte der Karthagerkönigin Dido und ihrer tragischen Liebe zu dem Troja-Flüchtling Aeneas im Regie-Bauplan von Krzysztof Warlikowski Traum ist oder Wirklichkeit, was erinnertes Ereignis oder fiebernde Fantasie, das lässt sich im Laufe der zwei Stunden im Münchner Nationaltheater nie so ganz eindeutig festmachen. Am Anfang steht Purcell Oper von 1689: Andrew Manze am Opernpult des Bayerischen Staatsorchesters formt mit Akkuratesse den Klang und rhythmischen Vortrieb der Streicher (Bläser gibt es in „Dido an Aeneas“ nicht) und des Continuo-Quartetts, entlockt dramatischen Atem aber auch einem ungewohnten „Instrument“ im Orchestergraben: Dem Chor, der seinen Platz an der Seite des Orchesters hat in dieser Produktion.
Victoria Randem entzückt in "Dido and Aeneas"
Purcell hat die ersten gesungenen Worte an Belinda vergeben, und Warlikowski nutzt das gleich, um die Schwester Didos als Konkurrentin um die Gunst des Aeneas einzuführen – die norwegische Sopranistin Victoria Randem verfügt nicht nur über eine verführerische Stimme, sondern ist auch mit allen Insignien weiblicher Attraktionsfähigkeit ausgestattet. Was von Aeneas – ihn singt der Bariton Günter Papendell – nicht unbemerkt bleibt, wenn die beiden vergnügt aus einem auf der Bühne heranrollenden Auto steigen, in so ganz anderer Stimmung als die sichtlich gedrückte Dido, die sich rasch ins Haus zurückzieht.
Diese Wohnwabe steht an einem winterlichen Wald – das Bühnenbild stammt, wie meist bei Warlikowski-Produktionen, von Malgorzata Szczesniak. Doch bei dem polnischen Szenografen-Duo ist die äußere Welt stets auch Abbild innerer Befindlichkeit. Immer wieder schneit es, doch hinter dem weißen Gestöber und dem beschneiten Geäst liegt Finsternis. Dunkel und schemenhaft sind auch die Gestalten, die mit gespensterhaft leeren Augen zwischen den Bäumen lungern – Bilder diffuser Angst, von welcher Dido, das wird explizit gezeigt, umgetrieben ist. Geradezu partyhaft bunt ausstaffiert (ebenfalls von Szczesniak) dagegen das Grüppchen der Hexen, das, so will es Purcells Oper, unter Anführung eines Zauberers der Liebe zwischen Dido und Aeneas in die Quere kommt. Der US-amerikanische Countertenor Key’mon W. Murrah singt diesen Zauberer mit herausragendem Wohlklang, verzichtet vor allem völlig auf das sonst vielfach zu hörende, Hexenhaftigkeit vorstellende vokale Zerrgebilde.
Auf Purcells Trauerklänge folgen Schönberg-Akkorde
Der böse Zauber wirkt, Aeneas zieht von dannen, Dido stimmt ihr finales Lamento an: Die litauische Sopranistin Ausrine Stundyte, als Dido auf jegliche barocke Vokalstilistik verzichtend, fasst Didos Abschied in Gesang von bewegender Schlichtheit. Dazu verpuppt sie sich in einem blutroten Gewand und führt den Dolch an ihr Herz.
Auf Purcells Trauerklänge sogleich Schönberg-Akkorde folgen zu lassen, ist schon deshalb unmöglich, weil der Chor nun weicht, das Orchester sich mehr als verdoppelt. Den Umbau füllt musikalisch das zugespielte Interludium (Pawel Mykietin schuf dafür einen techno-düsteren Soundtrack), das videogestützte Bühnenbild zeigt nun minutenlang einen Tunnel mit fernem Licht, Balletttänzer führen flippigen Streetdance vor. Bevor das Zwischenspiel vollends Schönberg weicht, fallen zwei Schüsse. Ein Toter taucht ja schon im Libretto von „Erwartung“ auf, in Warlikowskis Lesart aber sind es zwei – Aeneas und Belinda. Die Szene nämlich ist dieselbe geblieben, die Wohnwabe vorm Winterwald, Dido nun die namenlose Frau, Aeneas der ebenso nicht näher bestimmte Geliebte, Belinda schließlich – das Motiv. Warlikowski selbst hat darauf hingewiesen, dass er sich inspirieren hat lassen von der realen Dreiecksgeschichte, die sich im Vorfeld der Entstehung von „Erwartung“ zwischen Schönberg, dessen Ehefrau und einem jungen Maler ereignete, der sich mit Frau Schönberg in einem Liebesabenteuer verfing – und am Ende Selbstmord beging.
Krzysztof Warlikowski hat dann noch eine finale Volte parat
Warlikowski lässt die so aufgerichtete Dido-Aeneas-Belinda-Eifersuchtsgeschichte nun in ein Therapie-Setting münden, in dem die Frau ihre angsterfüllten Wahrnehmungen von der Seele spricht. Ausrine Stundyte spielt hier ihre ganze Kunst der sängerischen Charakterdarstellung aus: bruchlos die Übergänge zwischen Sprechgesang und arioser Stimmführung, hellwach das Erfassen kleinster Sinnebenen, sängerisch bewusst in der Schwebe gehalten die stete Gefahr des seelischen Kippens – ein faszinierendes Psychogramm, eine Glanzleistung. Andrew Manze entlockt dazu dem Orchester die entsprechend flackernden Farben.
Krzysztof Warlikowski hat dann noch eine finale Volte parat, durch die sich die Frage des Zusammenhängens noch um eine weitere Drehung verschärft. Dennoch stellt sich die Inszenierung, aufs Gesamte gesehen, als kühner und bildstarker Stoffzugriff dar. Dass, wo Verlust und Trauma ihre Kräfte entfalten, nicht alles erklärt sein muss, hat schon Schönberg klar gesehen, als er über „Erwartung“ sagte: „Das ganze Stück kann als ein Angsttraum aufgefasst werden.“