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Mit „Antichristie“ heizt Mithu Sanyal die postkoloniale Debatte an

Mithu Sanyal

Bei Mithu Sanyal wird die postkoloniale Debatte zum Krimi

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    Nach ihrem gefeierten Debutroman „Identitti“ hat Mithu Sanyal jetzt ein rasantes Buch über den Postkolonialismus geschrieben.
    Nach ihrem gefeierten Debutroman „Identitti“ hat Mithu Sanyal jetzt ein rasantes Buch über den Postkolonialismus geschrieben. Foto: Georg Wendt/dpa

    Durga will die Asche ihrer Mutter verstreuen, da bläst ein Windstoß die den Trauergästen ins Gesicht. Filmreife Panne, aber ihrer Mutter hätte die Szene gefallen, special effects by god, denkt Durga. Asche im Wind verstreuen? Geht meistens daneben. „Unterschätze niemals die Macht des Faktischen.“ Da klingelt auch noch ihr Handy.

    Fulminanter Einstieg in einen Roman, der durch die Vergangenheit wirbelt wie die Asche um die Köpfe der Trauergäste. „Antichristie“ heißt das neue Buch von Mithu Sanyal über eine Drehbuchautorin, die nach dem Tod ihrer Mutter nach London reist, um eine Krimiserie zu entwickeln, durch die Zeit fällt und in einem Haus voller Revolutionäre landet, die viel diskutieren und am Ende Bomben bauen. Klingt verwirrend, ist es auch, also noch mal von vorn.

    In „Antichristie“ schreibt Sanyal über die Folgen des Kolonialismus auf mehreren Zeitachsen

    Die Asche ihrer Mutter ist gerade verstreut, da fliegt Durga, Anfang 50, Tochter eines Inders und einer Deutschen, nach London, um an einem Drehbuch mitzuarbeiten. Agatha Christie, die Queen of Crime, soll neu verfilmt werden – antirassistisch und dekolonisiert mit einem schwarzen Detektiv und einer hijabtragenden Agentin in der Hauptrolle. Das Schreibkollektiv hat die ersten Ideen kaum gepitched, da formiert sich Widerstand. Agatha-Christie-Fans wittern Zensur, fürchten um ihr nationales Erbe, rufen zum Protest auf. Und dann stirbt auch noch die Queen!

    Manchmal blutet die Realität in den Roman hinein, schreibt Mithu Sanyal im Nachwort. Der reale Tod von Elizabeth II. habe ihr die Struktur für „Antichristie“ gegeben. Zwölf Tage, die sogenannten D-Days, sind im royalen Protokoll nach dem Tod des Oberhaupts vorgeschrieben, über zwölf Tage spannt sich Sanyals Erzählung – zumindest an der Oberfläche. Darunter entspinnt sich ein Gewirr aus Figuren, Zeitsprüngen und Dialogen, so rasant erzählt, dass man sich selbst fühlt wie in einer Zeitkapsel, weil man am Ende einer Szene nicht mehr weiß, wo man am Anfang war, doch Sanyal hält die Fäden zusammen.

    Der Trauerzug mit dem Sarg der gestorbenen britischen Königin Elizabeth II. führte über die Prachtstraße The Mall. Zwölf Tage, die sogenannten D-Days, sind im royalen Protokoll nach dem Tod des Oberhaupts vorgeschrieben.
    Der Trauerzug mit dem Sarg der gestorbenen britischen Königin Elizabeth II. führte über die Prachtstraße The Mall. Zwölf Tage, die sogenannten D-Days, sind im royalen Protokoll nach dem Tod des Oberhaupts vorgeschrieben. Foto: Zac Goodwin/PA Wire/dpa

    Als Essayistin und Autorin zählt sie seit Jahren zu den wichtigen Stimmen, wenn es um Feminismus, Antirassismus und Postkolonialismus geht. In ihrem gefeierten Debütroman „Identitti“ über eine weiße Uniprofessorin, die sich als Person of Color ausgibt, verhandelte sie Fragen zu Identität und kultureller Aneignung. Im neuen Roman, der auf der Longlist des deutschen Buchpreises stand, schreibt Sanyal über die Folgen des Kolonialismus auf mehreren Zeitachsen. Mal springt sie in Durgas Kindheit, erzählt, wie traurig sie war, weil der Vater nicht Bengali mit ihr sprach und die Mutter sich mehr für den indischen Befreiungskampf interessierte als für die Familie. Mal sitzt Durga als Studierende mit linken Kommilitonen im Bauwagen, lernt viel über Nazis und wenig über Kolonialismus.

    „Antichristie“ ist vollgestopft mit Zitaten, historischen Fakten und popkulturellen Bezügen

    Und dann rutscht Durga plötzlich durch die Zeit. Nach dem Tod der Queen und einer rassistischen Bemerkung ihrer besten Freundin gerät alles durcheinander, das Zeitkontinuum löst sich auf und Durga findet sich im London des Jahres 1906 wider, genauer im India House, einem Wohnheim für indische Studierende und Treffpunkt für Freiheitskämpfer.

    Sanyal hat diesen Ort nicht erfunden ebenso wenig wie die Figuren, die dort ein- und ausgehen. Mahatma Gandhi, noch mit vollem Haar, aber schon vom gewaltfreien Widerstand überzeugt, kommt zu Besuch, die Frauenrechtlerin Charlotte Despard, Lenin lässt sich blicken, aber Hauptakteur im Haus ist Vinayak Savarkar, der heute vor allem für seine hindunationalistische, antimuslimische Ideologie bekannt ist. Ganz so radikal ist er damals noch nicht, aber sein Ziel steht fest: Er will Indien vom britischen Kolonialismus befreien, notfalls mit Gewalt, weshalb er sich mit Gandhi überwirft.

    Der indische Freiheitskämpfer Mahatma Ghandi setzte sich für gewaltlosen Widerstand ein.
    Der indische Freiheitskämpfer Mahatma Ghandi setzte sich für gewaltlosen Widerstand ein. Foto: Columbio Pictures, dpa (Archivbild)

    An diesen beiden Figuren offenbart Sanyal das einseitige Bild, das die Geschichte oft zeichnet. Der eine überhöht, der andere verteufelt, die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Im Gespräch erkennt Durga, dass auch Gandhi rassistische Ansichten vertritt und Savarkar komplexer ist als der Nationalist, für den sie ihn gehalten hatte. Die Reise in die Vergangenheit verändert ihren Blick auf die Gegenwart und andersherum.

    „Ein Rauschen von Gedanken und Bildern flüsterte durch meine Nervenbahnen, alles Wissen und Nicht-Wissen, Wahrheit und Lüge und Irrtum und alles, alles gleichzeitig“, denkt Durga an einer Stelle und beschreibt damit ziemlich genau das Lesegefühl. Der Roman ist vollgestopft mit Zitaten, historischen Fakten und popkulturellen Bezügen, er erzählt Geschichten über die Geschichte und eröffnet neue Perspektiven auf eben jene. Die Gesellschaft schaffe es, sich die Gegenwart divers vorzustellen, nicht aber die Vergangenheit, heißt es an einer Stelle. Sanyal legt den Finger in die Wunde, setzt der westlichen Geschichtsschreibung die indische Perspektive entgegen und liefert einen Beitrag zur postkolonialen Debatte, der es in sich hat.

    Plötzlich ermittelt Sherlock Holmes und „Antichristie“ wird selbst zum Kriminalroman

    Ständig wird geredet und diskutiert, über Formen von Gewalt, geeignete Mittel gegen die Unterdrückung, über Diskriminierungserfahrungen. Manchmal möchte man dem Stimmengewirr entkommen, weil man bei all den Positionen nicht mehr weiß, wo man selbst steht, dann wieder zieht Sanyal einen hinein in den Meinungsstrudel. Während die Freiheitskämpfer Anfang des 20. Jahrhunderts um die Frage kreisen, welche Form des Widerstands moralisch vertretbar ist, diskutiert das Autorenkollektiv im London der Gegenwart darüber, ob die Verbrechen der Briten – durch den Kolonialismus wurden rund 100 Millionen Inderinnen und Inder umgebracht – mit denen der Deutschen vergleichbar sind. Nur um im selben Atemzug über den originellste Krimi-Plot zu entscheiden. Entführung, Folter, Massenmord? Langweilig, dann lieber eine politische Verschwörung. Was zählt schon politische Korrektheit, wenn es um Einschaltquoten geht. Darauf ein Glas Gerstengrasssaft, aber bloß keinen Tee, denn der ist ein Produkt des Sklavenhandels.

    Sanyal entlarvt nicht nur die Haltung der Ewiggestrigen, die von Antikolonialismus nichts hören wollen, sondern blickt beizeiten auch ironisch auf die „Diversitäts-Kategorien-Erfüllungs-Crew“. Sie schafft Raum für verschiedene Stimmen und Standpunkte und wendet sich gegen Absolutheitsansprüche, egal von welcher Seite. „Antichristie“ ist ein lautes Buch, erhellend und verwirrend, witzig und dozierfreudig. Kein leichter Stoff, den Sanyal auf 500 Seiten präsentiert, aber ist ja auch kein Leichtes, eine neue Perspektive auf die Geschichte zu werfen und sie dadurch zu verändern.

    Während das Kollektiv am Krimi-Drehbuch schreibt, ereignet sich im Haus der indischen Freiheitskämpfer ein Attentat, Sherlock Holmes höchstpersönlich ermittelt und „Antichristie“ wird selbst zum Kriminalroman. „Literatur ist ein wildes, neugieriges Gespräch über die Generationen hinweg. Und die Funktion von Krimis ist dabei, Verborgenes sichtbar zu machen. In unserem Fall die unsichtbare Kolonialgeschichte in der Popkultur“, schreibt Sanyal und macht genau das.

    Mithu Sanyal: Antichristie. Hanser, 544 Seiten, 25 Euro.

    Lesung: Die Autorin Mithu Sanyal ist Stargast beim Literaturabend der Augsburger Allgemeinen am Freitag, 11. Oktober, um 19 Uhr in der Stadtbücherei Augsburg. Karten gibt es in der Buchhandlung am Obstmarkt in Augsburg und über Reservix.

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