Da sind diese eigenwillig nachdenklich bildstark schönen Gedichte. Zum Beispiel:
„Hundert Jahre Geduld/ zwischen den Zeiten/ Schwups, schon fliegt da/ Abendland zum Fenster raus/ Niemand erstarrt/ Wir sind keine Zeitgenossen/ verschwenden nur Zeit“
Gedichte, ganz 100 davon und mit solcher Themenvielfalt, wer mag findet auch womöglich Weihnachtliches:
„So begehrt wie Gold/ liegt Gott heute unter/ den Gletschern des Herzens/ Der unauffällige Herr/ meidet das Rote Meer/ Er/ möchte nicht mehr/ als/ Die kleinen Tauschgeschäfte/ für den Seelenfrieden“
Doch das ist nur die eine Ebene. Denn vor dem Erreichen der Poesie liegen im neuen Buch von Michael Schreiner sogar noch zwei weitere der Wahrnehmung: eine ästhetische und eine des Staunens.
Die Funde gehen bei Michael Schreiner längst in die Tausende
Bislang entstanden die Bücher des ehemaligen Leiters der Kultur- und Journalredaktion der Augsburger Allgemeinen wie zuletzt „Sehen gehen“ aus den Fotografien des Flaneurs, der rein durch den eigenen Blick auf das Zugegene im Alltag das Besondere gewinnt. Jetzt stelle man sich den Zeitungsmenschen vor, wie er in einem anderen seiner Projekte seit Jahren die täglichen Ausgaben nach Formulierungen in Haupt- oder Unterzeilen durchsucht, die irgendwie fruchtbar wirken, als ließe sich aus ihnen Funken schlagen.
Und dann die Funde, die längst in die Tausende gehen, immer mal wieder auf dem großen Esstisch in seiner ursprünglichen und wiederbezogenen Heimat Saarbrücken ausbreitet, um ohne jedes Register, ohne jede Vorordnung Formulierungen aufeinanderstoßen zu lassen, auf dass sich Bilder formen. Hunderte Gedichte sind so entstanden inzwischen, eine Auswahl findet sich im Buch nun, das den auf so viele Arten treffenden und aus einem Text darin stammenden Titel „Rosen für die Eintagsfliege“ trägt.
Das Buch ist eine sinnliche Hommage an die Tageszeitung
Denn, und das ist zugleich die ästethische Erfahrung: Es ist eine gerade sinnliche Hommage an die Tagezeitung, das ihr Wesentliche im Material und der Typografie. Denn ausgeschnittenes Papier ist hier neu arrangiert und im Kontrast zur Zeitung auf fast immer reinweißem Hintergrund abgedruckt, wird so also wieder Papier. Und dazu treffen die Schriften unterschiedlicher Zeitungen aufeinander: viel FAZ, einiges an AZ, ein bisschen SZ, und dann und wann die Saarbrücker Zeitung auch.
Es ist eine Collage-Anmutung, die vielleicht an Gedichte von Nobelpreisträgerin Herta Müller erinnern mag, aber doch so anders in Verwendung des Materials und Charakter der Werke, dass sie im Grunde nur das gleiche Alphabet für ihre Sprache verwenden. Und bei Michael Schreiner kommen ergänzend und stimmig im Buch noch Bilder aus seiner Serie „Diapham“ hinzu, in denen er ebenfalls in Tageszeitungen durch deren Papier quasi hindurch fotografiert hat, wenn dort Bilder auf Vorder- und Rückseite abgedruckt waren und sich nun in ihren Motiven spannend überlagern. Zeitung als sinnlich ästhetische Erfahrung.
Die Ebene des Staunens erreicht, wer liest, welche Funde Michael Schreiner da in Überschriften gemacht hat – und der rätselt freilich auch, welche Artikel dazu wohl erschienen sind. Etwa: Versatzstücke von „Antimaterie fällt auch nach unten“ und „Die amouröse Meise“ über „Es geht doch nicht ums Sockenwaschen“ und „Der vergiftete Glückskeks“ bis zu „Ein Scheck von Hemingway“. Aus letzterem etwa wird:
„Ein Scheck/ von Hemingway/ ist nichts für die Ewigkeit/ Die ungeklärten Fragen/ zermürben/ Und ewig/ rattert das Fax/ Abends hören wir Gedichte/ Azurblaues/ Blablabla“
Was für ein schönes Buch, das immer wieder und lange Entdeckungsfreude aufkommen lässt.
Michael Schreiner: Rosen für die Eintagsfliege. Edition Kanu, 128 Seiten, 18 Euro
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