Zum Beispiel bei "Lanz": Da stand sie irgendwann im Raum, diese Frage. Als Richard David Precht und Harald Welzer beim Fernseh-Talk anlässlich ihres für viel Wirbel sorgenden Buches "Die vierte Gewalt" genau jenen gegenübersaßen, die sie kritisierten: führenden Köpfen der "Leitmedien", hier von Spiegel Melanie Amann und Welt Robin Alexander.
Der gemeinsame Befund von Philosoph und Soziologe lautete ja, dass die überregionalen Zeitungen und der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk in all den Krisen unserer Zeit bei oftmals unklarer und komplexer Sachlage ein befremdlich einheitliches, mitunter sehr regierungsnahes (Meinungs-)Bild abgegeben hätten – ob in Fragen der Corona-Maßnahmen oder der Ukraine-Bewaffnung (gegen die sich Precht und Welzer in offenen Briefen positioniert hatten und dafür teils hart angegangen worden waren).
Einheitlichkeit in der veröffentlichten Meinung: Bauchgefühl oder Tatsache?
Doch noch bevor die Erklärung der beiden dafür ansetzte, die betont nicht Verschwörungstheorien das Wort redete, sondern von aktivistischem Journalismus und gegenseitiger Bestätigung in wirklichkeitsfernen Blasen erzählte, stand da eben diese Frage im Raum: Ist diese Einheitlichkeit nur ein womöglich auf selektive Wahrnehmung gestütztes (und von nicht wenigen rundum Medienkritischen geteiltes) Bauchgefühl oder ist sie Tatsache?
Und da konnte Harald Welzer nur darauf verweisen, dass qualitative und quantitative Auswertungen bereits liefen, aber erst im Lauf des Dezembers zur Verfügung stünden. Woran sich unweigerlich die Frage anschloss: Warum die Veröffentlichung des Buches dann Ende September? Hatten die beiden nicht auf die nachweisliche Faktengrundlage warten können?
Nun liegt eine erste Studie als Zwischenbericht seit kurzem vor – "Die vierte Gewalt" steht gut drei Monate nach Erscheinen noch immer auf den vordersten Plätzen der Sachbuch-Bestseller, von der Spitze verdrängt allein durch Michelle Obamas "Das Licht in uns". Rund 4300 Beiträge aus den Leitmedien in den ersten drei Monaten des Ukraine-Kriegs hat der Mainzer Kommunikationswissenschaftler Marcus Maurer (zusammen mit dem Mainzer Kollegen Pablo Jost und Jörg Haßler von der LMU München) und einem Analyseteam ausgewertet. Was am Vorwurf Precht/Welzer stimmt: Sehr überwiegend ist die deutsche Perspektive auf den Konflikt thematisiert worden. Nicht zutreffend sind demnach aber die Vorwürfe der Einhelligkeit in der Bewertung und der Regierungsnähe. Verteidigungsministerin Lambrecht, aber vor allem Kanzler Scholz seien "vor allem in Bild und Spiegel außerordentlich negativ bewertet worden", so die Studie.
In einem ja auch für die Protestbrief-Unterzeichner Welzer und Precht entscheidenden Punkt aber hat die Studie bei den Leitmedien sehr große Einigkeit festgestellt: bei der Frage von Waffenlieferungen an die Ukraine. Überall überragte der Zuspruch, allein im Spiegel hätten sich "ablehnende und befürwortende Beiträge in etwa die Waage" gehalten. Was die Sinnhaftigkeit anderer Maßnahmen wie Wirtschaftssanktionen gegen Russland angeht, sieht die Studie bei aller mehrheitlichen Befürwortung etwa auch in der Zeit ein weniger eindeutiges Meinungsbild.
Wird hier eine Mehrheitsmeinung vorgespiegelt, die es tatsächlich nicht gibt?
Die Unterschiede im gesamten Meinungsbild reiche jedenfalls deutlich hin, um die These des von Welzer und Precht sogenannten "Cursorjournalismus" zu entkräften. Der besagt, dass es eine "Selbstangleichung" (zuvor stand in der Buch-Ankündigung "Selbstgleichschaltung") innerhalb der Leitmedien gebe, wodurch als Instrument des politischen Aktivismus der Eindruck einer Mehrheitsmeinung erzeugt werde, die es tatsächlich aber gar nicht gebe – sondern andere Meinungen schlicht in der veröffentlichten Meinung unterrepräsentiert blieben. Bei "Lanz" hatten die Journalisten Amann und Alexander entgegnet, dass dies ohnehin redaktionellen Tendenzen zuwiderlaufen würde, nach denen es eher darum gehe, sich von anderen Medien zu unterscheiden und anderes als das bereits Geschriebene zu bringen.
Die Autoren der Studie lassen in ihrer Bewertung selbst eine Haltung durchblicken, wenn sie schreiben zur Tatsache, dass "sehr einheitlich" etwa in der "Zuschreibung der Kriegsverantwortung an Russland" berichtet worden sei und bei der "Bewertung der beiden Kriegsparteien": Das sei "aber wenig verwunderlich, weil Russland – bei allem möglichen Verständnis für eine dort vielleicht als bedrohlich wahrgenommene Ost-Erweiterung der Nato – einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, der wenig Spielraum für andere Bewertungen lässt". Ihr Fazit jedenfalls endet: "Alles in allem deutet aber vieles darauf hin, dass die Medienberichterstattung – ähnlich wie in der Corona-Pandemie – nicht regierungsnah war, sondern die Regierung eher für ihre zögerliche Haltung kritisierte."