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„Marianengraben“: Edgar Selge berührt als Eigenbrötler

Filmkritik

Ein Film über die Sprache der Trauer: „Marianengraben” mit Edgar Selge

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    Edgar Selge als Helmut und Luna Wedler als Paula in einer Szene aus dem Film „Marianengraben“. Der Film kommt am 7. November in die deutschen Kinos.
    Edgar Selge als Helmut und Luna Wedler als Paula in einer Szene aus dem Film „Marianengraben“. Der Film kommt am 7. November in die deutschen Kinos. Foto: Oliver Oppitz/Alamode Film/dpa

    Erst mal absaugen. Die Asche von Ehefrau Helga hängt ja überall: an der Hose, auf dem Kapuzenpullover, sogar im Gesicht der jungen Frau. Da muss Helmut mit dem Akku-Staubsauger ran, um die sterblichen Überreste seiner geliebten Gattin zu retten. Helmut (Edgar Selge) hatte die junge Frau, die sich ihm später als Paula (Luna Wedler) vorstellen wird, auf dem Friedhof um Hilfe gebeten. Allein schaffte er es nicht, die Grabplatte hochzuhieven und Helga auszubuddeln. Der Wachdienst ließ nicht lange auf sich warten. Bei der Flucht über die Friedhofsmauer löste sich der Deckel der Urne und die Asche flog durch die Gegend. Mit einer skurrilen Erstbegegnung beginnt Eileen Byrnes „Marianengraben“ nach dem gleichnamigen Roman von Jasmin Schreiber. Aber von dem komödiantischen Auftakt darf man sich hier nicht täuschen lassen. Denn in den folgenden eineinhalb Kinostunden geht es um zwei Menschen, die versuchen, mit ihren übermächtigen Trauergefühlen zurechtzukommen.

    Im Kinofilm „Marianengraben“ spielt Edgar Selge eine Hauptrolle

    Paulas kleiner Bruder Tim ist bei Triest im Meer ertrunken. Nacht für Nacht träumt Paula 11.000 Meter tief im Meer zu versinken. Machtvolle Schuldgefühle plagen sie. Unter dem Verband sind die Narben über den Pulsadern noch nicht ganz verheilt. „Sehr erfreut“, sagt Paula, nachdem sich beide einander vorgestellt haben. „Na, wir wollen es mal nicht übertreiben“, antwortet Helmut zähneknirschend. Während bei Paula die Trauer noch frisch ist und die Wunden noch offen sind, hat sich bei Helmut die Trauer schon tief in Körper und Geist eingearbeitet. Vor mehr als fünfzig Jahren haben er und Hilde ihren Sohn verloren. Nun will Helmut ihre Asche neben dem Grab des Jungen in Südtirol beerdigen, so wie er es Hilde einmal versprochen hat.

    Widerstrebend willigt er ein, Paula mitzunehmen, die an Tims Geburtstag nach Triest will, um sich dem kleinen Bruder nahe zu fühlen. Und so zuckelt das ungleiche Paar in Helmuts altem Wohnmobil mit einer Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h Richtung Italien. Genug Zeit, sich kennenzulernen. Und die wird auch gebraucht. Helmut zeigt sich gegenüber seiner Mitreisenden äußerst wortkarg und auch Paula ist zu sehr mit den eigenen Sorgen beschäftigt, um die Unterhaltung am Laufen zu halten. Ohne Erklärung hält Helmut mitten im Wald an und rauscht hinunter zum See. Ein vermodertes Holzschild erinnert daran, dass der Sohn hier gestorben ist. Gerade als er einen Teil der Asche im Wasser verteilt, kommt eine schwäbische FKK-Wandergruppe an, um im kühlen See zu baden.

    Tragikomische Stimmung prägt den Film „Marianengraben“

    Groteske Situationen wie diese bestimmen immer wieder die tragikomische Temperatur des Films, die Regisseurin und Drehbuchautorin Byrne stets genau auszutarieren versucht. Nur langsam, Stück für Stück, geben die beiden Reisenden einander und dem Publikum die Details ihres traumatischen Verlustes preis. Erst spät im Film wird klar, dass Helmut und Hilde schon lange geschieden sind. Die Ehe ist an dem unterschiedlichen Umgang mit der Trauer um das gemeinsame Kind zerbrochen. Während Helmut den Verlust nie loslassen konnte und dem verstorbenen Sohn eine ganze Kiste voller Briefe geschrieben hat, suchte Hilde irgendwann ihr Glück mit einem neuen Mann und neuen Kindern. Paula wiederum kann sich nicht verzeihen, dass sie damals verkatert am Strand in Triest eingeschlafen ist, während der vom Tauchen begeisterte Junge allein ins Meer hinausgeschwommen und nicht wieder zurückgekommen ist.

    Helmut hat für ihre Situation auch nur lapidare Ratschläge im Köcher, aber darauf kommt es nicht an. „Wenn Trauer eine Sprache ist, dann habe ich zum ersten Mal jemanden getroffen, der sie genauso flüssig spricht wie ich“, sagt Paulas Stimme irgendwann aus dem Off. Auch wenn der alte, im übrigen auch sterbenskranke Mann und die junge Frau, die ihr Leben noch vor sich hat, auf vollkommen unterschiedliche Weise trauern, finden sie zu einem gegenseitigen Verständnis, das sie über den Generationsgraben hinweg bereichert.

    Edgar Selge ist wie geschaffen für die Rolle des Eigenbrötlers

    Mag sein, dass die Geschichte von der allmählichen Annäherung über die Katharsis bis zur Traumabewältigung vorhersehbar konstruiert ist. Aber das macht sie nicht weniger berührend. Byrne gelingt es, kauzige und skurrile Momente mit einem emotionalen Realismus zu kombinieren, der vor allem dank der darstellerischen Leistungen situativ glaubwürdig funktioniert.

    Edgar Selge ist wie geschaffen für die Rolle des garstigen Eigenbrötlers, der sich in seine negativen Gefühle eingeschlossen hat und damit eine typisch maskuline Form der Trauer verkörpert. Die Schweizer Schauspielerin Luna Wedler, die seit ihren Auftritten in „Je suis Karl“ (2021) und „Was man von hier aus sehen kann“ (2022) zu den interessantesten deutschsprachigen Talenten gehört, bildet mit ihrer offenporigen Emotionalität dazu den idealen Kontrast.

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