Es gibt viele verschiedene Wege, wie jemand Schriftsteller wird: Die einen fangen schon in frühen Jahren mit dem Erzählen an, weil es Spaß macht, und können dann nicht mehr damit aufhören. Die anderen beginnen erst spät, weil sie plötzlich eine originelle Idee haben: etwa einen Krimi-Kommissar, den es bislang nicht gibt. Der Weg von John Ronald Reuel Tolkien (1892–1973) zur Schriftstellerei gehört sicher zu den seltenen und besonders eigenwilligen Pfaden dorthin.
Er, der Sprachwissenschaftler, anerkannt und renommiert in seinem Fach, der von 1925 an in Oxford als Professor lehrte, erfand in seiner Freizeit Kunstsprachen, zum Beispiel das Quenya. Für diese Sprache ließ er sich durch das Finnische, aber auch das Lateinische und Alt-Griechische inspirieren. Und dann gab es da auch noch das Sindarin, eine Schwestersprache des Quenya, in der Tolkien sich Anleihen vom Keltischen holte. Tolkien pflegte – auch für Engländer – ein ziemlich extravagantes Hobby, und das mit aller Konsequenz.
Tolkien entwickelte eigene Mythen für seine Sprachen
Denn irgendwer sollte seine Kunstsprachen auch bitte schön sprechen. Also entwickelte Tolkien, immer schon fasziniert von den alten nordischen Mythen, seine eigenen. Das Quenya war die Sprache der Hochelben. Und die Hochelben, das waren diejenigen, die im ersten Zeitalter nach Aman gingen, wo die Götter zu Hause sind. Während das Sindarin die Sprache der Elben war, die auf Mittelerde geblieben waren. Dazu gab es die Valar, die Götter, und später kamen auch Zwerge, Menschen und Hobbits dazu. Sie alle lebten nicht glücklich und zufrieden nebeneinander, denn es gab auch einen, der über alle herrschen wollte, den bösen Gott Melkor, auch Morgoth genannt, und seinen mächtigen Diener Sauron, dazu Drachen, Balrogs und Orks – die Geschöpfe der Finsternis. Und wo Gut und Böse im Widerstreit liegen, gibt es auch Legenden, Heldentaten, Geschichten zu erzählen. In seiner Freizeit erfand sich Tolkien also nicht nur Sprachen, sondern auch Völker samt Mythologie und Geschichte – erst einmal völlig ziellos.
Etwas anderes kam hinzu: Tolkien war auch Vater von vier Kindern. Von 1920 an schrieb er seinen Kindern über ein Vierteljahrhundert hinweg Briefe vom Weihnachtsmann, die es zu Weihnachten zu lesen gab. Darin kam der Geschichtenerzähler in Tolkien immer deutlicher zum Vorschein. Das alles mündet in sein erstes literarisches Werk, eine Geschichte, die er seinen Kindern zu Hause vortrug, die er niederschrieb, die ein Buch wurde.
Die Arbeit daran begann an einem Sommertag Ende der 1920er Jahre, Tolkien sah Prüfungsarbeiten seiner Studenten durch, was ihm keine Freude machte. In einem Heft fand er zwei leere Seiten. Gedankenverloren schrieb er darauf: "In einem Loch im Boden, da lebte ein Hobbit." Dieser "Hobbit" wuchs sich zu einer Geschichte aus, es gab da Zwerge, Zauberer, jede Menge Abenteuer, einen mysteriösen Ring, der unsichtbar macht, und am Ende einen Drachen namens Smaug, den es zu besiegen galt. Dies alles spielte vor allem auf Tolkiens eigener mythischer Welt Mittelerde, auch wenn 1937 deren monströses Ausmaß noch niemand erahnen kann. Allen & Unwin veröffentlichte damals "Der Hobbit" und landete damit einen Erfolg. Tolkien, der Sprachwissenschaftler, wurde in der Folge zu einem der Urväter der modernen Fantasy-Literatur, als er nach dem Zweiten Weltkrieg "The Lord of the Rings" (1954/55) folgen ließ, erst 1969/70 das erste Mal als "Herr der Ringe" ins Deutsche übersetzt.
Der größte Teil der Mittelerde-Bücher erscheint erst nach Tolkiens Tod
Wer heute in der Fantasy-Abteilung von Buchhandlungen unter T wie Tolkien sucht, findet dort neben dem "Hobbit" und "Herr der Ringe" eine Vielzahl von Tolkien-Büchern rund um Mittelerde, das Wichtigste davon ist "Das Silmarillion", das die komplette Mythologie mit den ganzen Zeitaltern erklärt. Es gibt die "Nachrichten aus Mittelerde" und die zwölf Bände umfassende "The complete History of Middle Earth". Bis auf "Die Abenteuer des Tom Bombadil" ist der Löwenanteil der Mittelerde-Bücher nach dem Tod von J. R. R. Tolkien am 2. September 1973 – also vor genau 50 Jahren – erschienen.
Tolkiens Sohn Christopher John Reuel editierte die Bücher aus dem Nachlass seines Vaters. Er war ja schon von Kindesbeinen an mit Mittelerde vertraut, schlug ähnlich wie der Vater einen akademischen Lebensweg ein und wurde in Oxford Anglistik-Professor. Er war ständiger Berater seines Vaters und zeichnete nach dessen Anweisungen die Mittelerde-Karten, die vielen Buchausgaben beilagen. Nach Tolkiens Tod war er derjenige, der der breiten Weltöffentlichkeit präsentierte, wie komplex, detailreich, verschlungen und ausgearbeitet Tolkiens mythische Welt im Lauf von Jahrzehnten geworden war. Denn im "Herr der Ringe" ist davon nur ein kleiner Ausschnitt sichtbar geworden.