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Literatur: Der neue Tellkamp: Ein Roman wie ein Labyrinth

Literatur

Der neue Tellkamp: Ein Roman wie ein Labyrinth

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    Uwe Tellkamp, Autor, sitzt im Hof des Buchhaus Loschwitz auf einer Bank.
    Uwe Tellkamp, Autor, sitzt im Hof des Buchhaus Loschwitz auf einer Bank. Foto: Dpa / Sebastian Kahnert

    Wenn schon, dann richtig: Gleich doppelt hat der Schriftsteller Uwe Tellkamp dieser Tage auf sich aufmerksam gemacht. Zum einen kam nach vielen Jahren des Wartens die Fortschreibung seines Bestsellers "Der Turm" in die Buchhandlungen. Wieder ein Ziegelstein von Buch, gut 900 Seiten lang, "Der Schlaf in den Uhren" betitelt. Neuer Lesestoff für sein Publikum. Allerdings geht durch die Leserschaft von einst mittlerweile ein Riss. Und das führt zu dem zweiten durch und durch bemerkenswerten Auftritt von Tellkamp in der Dokumentation "Der Fall Tellkamp", die Andreas Gräfenstein gefilmt hat und die in der Mediathek von ZDF/3Sat abrufbar ist.

    Und es ist sogar besser, sich über die Dokumentation dem sperrigen neuen Roman zu nähern, als ihn direkt zur Hand zu nehmen. Die Doku arbeitet einen Schlüsselmoment in Tellkamps öffentlichem Leben auf, der sich in einem Satz festmacht, 2018 in einer leidenschaftlich geführten öffentlichen Diskussion mit dem Lyriker Durs Grünbein im Dresdner Kulturpalast gefallen. Dort sagte Tellkamp in Bezug zur Einwanderung nach Deutschland: "Die meisten fliehen nicht vor Krieg und Verfolgung, sondern kommen her, um in die Sozialsysteme einzuwandern, über 95 Prozent." Ein Satz, der immer und immer wieder zitiert wurde, ohne auf die Umstände näher einzugehen, in denen er gefallen war, das hitzige Wortgefecht, die vielen anderen Gedanken zuvor und danach. Ein Satz, von dem sich im Anschluss der Suhrkamp-Verlag distanzierte. Was dem Verlag sogleich die Kritik von

    Tellkamp behauptet, Andersdenkende kommen nicht zu Wort

    Bis heute wirken die Folgen dieses Gesprächs für Uwe Tellkamp nach. Vier Jahre später ist in der Dokumentation zu erleben, wie Tellkamp sich immer wieder in Rage redet. Ein erregbarer Mensch, auch ein politischer Kopf, einer, der nicht mehr an die Demokratie in Deutschland glaubt, weil sie Andersdenkende wie ihn nicht zu Wort kommen lassen will - behauptet Tellkamp. Weil sie diejenigen, die wie er in Ostdeutschland anders über Einwanderung denken, sanktioniert. Tellkamp sieht Parallelen zum Damals, zur DDR, wo es zwar auf andere Weise, aber im Prinzip ähnlich schiefgelaufen sei.

    Wer dann in der Dokumentation zum Beispiel die Loschwitzer Buchhändlerin Susanne Dagen sieht, bekommt eine Ahnung davon, was sich gerade in dem Teil von Dresden abspielt, mit dem Tellkamp in "Der Turm" die letzten sieben Jahre der DDR auf furiose Weise eingefangen hat: Dagens Kulturhaus Loschwitz war eine mehrfach mit Preisen bedachte Buchhandlung, ein Ort der Begegnungen, der Lesungen, auch Diskussionen. Heute bespricht Dagen mit Ellen Kositza vom Antaios-Verlag, dem Verlag für die neue Rechte in Deutschland, gemeinsam unter dem Titel "Mit Rechten lesen" Bücher und stellt fest, dass sie ähnlich wie Tellkamp von einem Tag auf den anderen nicht mehr dazugehörte.

    Im Grund hätte Tellkamp all das, was ihm als Schriftsteller geschehen ist, aber auch die Diskussionen und Debatten der letzten Jahre weiter vor Ort, in seinem Dresdner Stadtteil, erzählen können. Die besser Gestellten aus dem Westen, die in der Mehrzahl die guten Jobs im Osten innehaben, wohnen dort und wollen Tellkamp, wie er in der Doku sagt, an der Wursttheke darüber belehren, was er zu denken habe.

    2015 wird von Tellkamp als historischer Bruch gewertet

    Die friedliche Revolution 1989 ist längst Geschichte, wie die DDR auch, die Folgen der Wiedervereinigung, die Folgen der ungleichen Geschichte in West und Ost, allerdings nicht. Im August 2015 mit der Flüchtlingskrise, mit den Pegida-Demonstrationen in Dresden begann ein neues Kapitel dieser Nachwendegeschichte.

    Genau darauf stürzt sich Tellkamp in "Der Schlaf in den Uhren". 2015 wird darin ähnlich wie 1989 als ein historischer Bruch bewertet. Zum Schluss der Doku fasst Tellkamp den Inhalt zusammen: Es gehe um einen Mann, Fabian Hofmann, der Mitarbeiter in der 1001-Nacht-Abteilung ist und dort an einer Chronik einen Abschnitt über die Wendezeit 1989/90 mitverfasst. Das Kanzleramt, die sogenannte Windmühle, sponsere den Beitrag. Die Kanzlerin, Anne Hofmann, eine alte Bekannte aus "Der Turm", beaufsichtigt die Arbeit. Allerdings verändert sich im August 2015 in dem fiktiven Staat die Lage, Flüchtlinge kommen ins Land, die Stadt verändere sich, Debatten beginnen in den Freundeskreisen, bis die Freundeskreise gesprengt werden. "Ein Mann in mittleren Jahren, der eigentlich in einer freien Gesellschaft angekommen ist und sich dort wohlfühlte, wird plötzlich zu seiner eigenen Überraschung da rausgetragen", so Tellkamp, wegen Positionen, die ihm von anderen zugeschrieben werden. Letztlich werde Hofmann zum Paria der Gesellschaft und lande 2021 in der Kajüte auf einem Schiff.

    Aber was nach einer schlüssigen Erzählung klingt, entpuppt sich lesender Weise als ein einziges, immer weiter verzweigendes Labyrinth. Wie schon in "Der Turm" spielt Tellkamp mit der Realität, nimmt Figuren des öffentlichen Lebens, mantelt sie mit neuen Namen ein und lässt sie dann in seiner Parallelwelt Rollen spielen. Wie in einem Fantasy-Roman hat er eine abstrakte Landkarte in den Einband des Buchs drucken lassen: Tellkamps Hauptstadt Treva liegt wie Dresden an der Elbe, es ist ein fiktives Hamburg. Der Fluss verbindet die Handlungsorte, die Ministerien, die Inseln, die eine wichtige Rolle spielen, den trevischen Nachrichtendienst. Figuren aus dem Turm tauchen auf, etwa Meno Rohde. Politiker verstecken sich hinter Pseudonymen: Martin Delamotte könnte auf Thomas de Maizière verweisen, Hermann Scharff auf Wolfgang Schäuble, Thekla Oder muss eigentlich Christa Wolf sein, Oskar Broch ist Günter Grass.

    Der neue Roman wirkt wie ein Privatuniversum

    Erzählt wird nicht in einem Stück, sondern in Fragmenten, die ineinandergeschoben werden, Schicht liegt auf Schicht, mal spielt das 2015, dann 1989, dann 1990, dann auch 2021. Doch anders noch als in "Der Turm", in dem es Tellkamp gelang, seine Protagonisten zu gestalten, sie interessant zu machen, ihnen Geschichte und Leben einzuhauchen, gelingt ihm das in "Der Schlaf der Uhren" nicht mehr. Der Zusammenhang stellt sich nicht ein. Man prallt unwillkürlich auf eine Wand, hinter der das gesamte Geschehen stattfindet.

    Man ahnt, dass es da einen Sinnzusammenhang geben mag, aber die Welt, die die Karte eingangs umreißt, lässt einen nicht ein, sie wirkt wie ein Privatuniversum, in das man versehentlich als Leser gestolpert ist. Es geht offenkundig um Politik, Tellkamp schreibt ja über die Machtzentren, die Schaltzentralen, aber die vielen Figuren, die aberwitzig vielen Namen bleiben blass, wirken wie Staffage, bleiben Thesen, über Handlungen und Dinge der Welt verbunden, aber nicht über das Gefühl.

    Zwischendrin taucht Tellkamp selbst auf: Namentlich als Thomas-von-Aquin-Forscher, ein schöner Witz, aber dann auch als Fall: genauer Aktenvermerk des Referats Aufarbeitung. Unter dem Punkt "Telramund" heißt es ziemlich in der Mitte der 900 Seiten: "Seit dem Auftritt des T. in der trevischen Philharmonie, bei dem er 95 Prozent der Flüchtlinge bezichtigte, zu uns nur der Sozialleistungen wegen zu kommen, sind mehr als drei Jahre vergangen, aber noch immer meldet sich T. mit kruden Thesen, den von Rechten sattsam bekannten Opfermythen, zu Wort. Unsere progressiven Kräfte haben damals die richtigen Worte gefunden und den rechtsnationalen Käse des T. entzaubert. Wenn einer wie Pegida redet, kann es nicht um richtig oder falsch gehen, wenn der Rententopf gut gefüllt ist, hat das keine Auswirkungen auf den Flüchtlingstopf, und wenn sich der Osten, der den Westen 1990 mit Sozialflüchtlingen geflutet hat, über Migranten aufregt, braucht er sich über Widerspruch nicht zu wundern." Der Machtapparat hat über diesen T. sein Urteil von zentraler Stelle aus gefällt.

    Man fragt sich dann, als beklommener Dokumentationsbetrachter, als noch beklommenerer Roman-Leser, was eigentlich genau in dem Sommer 2015 und danach passiert ist? Hat sich damals eine Parallelwelt geöffnet? In der einen wird die Demokratie als etwas Bedrohtes wahrgenommen, das verteidigt werden muss, vor allem auch gegen die Angriffe von Rechtsaußen, in der anderen scheint ein mehr oder weniger gleichgeschalteter Apparat, der Widerspruch nicht mehr zulässt. Und zählt das für die eine Seite schon zur Gesinnungsdiktatur, wenn man den neuen Tellkamp zu den unlesbaren Büchern zählt, weil er auf der einen Seite zu verschachtelt und auf der anderen zu hermetisch ist?

    Uwe Tellkamp: Der Schlaf in den Uhren; Suhrkamp, 904 Seiten, 32 Euro.

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