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Literatur: "Das verlorene Paradies": Und wie liest sich der Nobelpreisträger nun?

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"Das verlorene Paradies": Und wie liest sich der Nobelpreisträger nun?

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    Abdulrazak Gurnah, Schriftsteller aus Tansania, hält die Medaille des Nobelpreises für Literatur 2021 nach einer Zeremonie in der schwedischen Botschaft.
    Abdulrazak Gurnah, Schriftsteller aus Tansania, hält die Medaille des Nobelpreises für Literatur 2021 nach einer Zeremonie in der schwedischen Botschaft. Foto: Matt Dunham, dpa

    Ken Follett wird wohl nie den Literaturnobelpreis erhalten. Aber warum eigentlich? Weil er ohnehin weltbekannt ist durch all seine Romane mit Millionenauflage? Oder weil er in seinem Schreiben nicht das notwendige literarische Gewicht hat, seine historischen Romane eben nur bessere Unterhaltung sind?

    Abdulrazak Gurnah kannte kaum jemand, als er von der Schwedischen Akademie den Nobelpreis 2021 zugesprochen bekam, keiner seiner zehn Romane war da in deutscher Übersetzung erhältlich – nun, kurz nach Überreichung der Auszeichnung vor einer Woche, ist es der erste: „Das verlorene Paradies“. Jetzt lässt sich also prüfen: Erreicht dieser 72-jährige Tansanier, der noch auf Sansibar geboren wurde und seit seiner Flucht vor über 50 Jahren in Großbritannien lebt, also das für den Preis notwendige Gewicht?

    Das verlorene Paradies: Wie ein historischer Roman aus dem 19. Jahrhundert

    Aber lässt sich das in einem solchen Fall überhaupt fragen? Denn heißt das nicht, etwas fortsetzen, das Gurnah im Roman ja an den kolonialistischen Europäern vor etwa 110 Jahren in seiner Heimat beschreibt? Die Deutschen (sehr akkurat und gerne mit Galgen zur Hand) wie die Engländer treten als höhere Macht von höherer Einsicht richtend und regierend auf. Andererseits: Wie am Ende des Romans jene Europäer dann die Einheimischen als Helfer im beginnenden Ersten Weltkrieg akquirieren – werden so nicht auch die Schaffenden und Werke aus den einstigen Kolonien mit Lob und Preisen in Beschlag genommen um das post-kolonialistisches Engagement, die eigene höhere Einsicht zu markieren? Die Zeit etwa jubelte nach der Verkündung des Siegers und tut es nun auch auf dem Buchrücken: „Wer als weißer Europäer Gurnah liest, begreift die eigene Provinzialität, den so engen Ausschnitt, mit dem er die Welt und ihre Geschichte betrachtet.“ Aber wer Gurnah liest, kommt auch nicht umhin zu konstatieren: Ein solches Urteil kann nur dem Thema gelten, dem Schreiben dagegen nicht.

    Denn Abdulrazak Gurnahs historischer Roman liest sich wie einer aus dem 19. Jahrhundert, noch dazu ein sprachlich üppiger, voller wuchtiger Bilder, überreich an Adjektiven: „Die Stadt am See lag in sanftem, unterirdischem Licht vor ihnen, violett mit einem blutigen Saum über den großen Klippen und Hügeln, die ihn umgaben …“ In diese Genre-Szenen setzt der Autor seine symbolisch leuchtenden Charaktere und sorgt mit vielen Gesprächen für sehr viel Kolorit und Lebendigkeit.

    Ein Zwölfjähriger als lebendes Pfand: Wie frei ist jeder Einzelne?

    Gurnah erzählt in „Das verlorene Paradies“ in einem großen Boden einer Abenteuerreise ins Hinterland vom Schicksal des Kontinents: Der Händler Aziz bricht mit einer Karawane dorthin auf und ist auch sonst eine Art Brücke – als Muslim gegenüber dem traditionellen Geister- und Naturmagieglauben ein Aufgeklärter. Als Geschäftsmann blickt er auf das Land mit dem abschätzenden Blick der äußeren Verwertbarkeit, tauscht gegen Gefragtes wie Kautschuk und Stoßzähne. Bei dieser Reise ins Herz der Finsternis kommt die ohnehin schon prekäre Verbindung zwischen dem stetig wachsenden Einfluss der Europäer und einer um ihre Existenz kämpfende Tradition ziemlich spektakulär an ihre Grenze …

    Mit dabei ist auch der Jugendliche Yusuf, durch dessen Schicksal Gurnah zudem in einem kleineren Bogen die Frage der Freiheit des Einzelnen verhandelt. Es beginnt damit, dass er als Zwölfjähriger plötzlich von seinen Eltern „Onkel Aziz“ auf Reisen mitgegeben wird – wie er später ahnen wird: als Pfand für die Schulden des Vaters beim Händler, als Sklave also. Nun ist dieser Yusuf aber ein so schöner Jüngling, dass er nicht nur Begehren bei beiderlei Geschlecht auslöst (das Homoerotische wirkt bei Gurnah ohnehin alltäglich) und später, mit 17, selbst die bösen Geister unterwegs zu besänftigen scheint; er wird später auch in einem Kammerspiel der Liebe zu einem Spiegel der menschlichen Sehnsüchte, die an den Mauern der gesellschaftlichen Machtverhältnisse zerschellen. Das Paradies (das nur in der Übersetzung wie John Miltons ein verlorenes ist, das englische Original aus dem Jahr 1994 hieß einfach „Paradise“): Es erscheint hier im Großen in den Blicken Yusufs auf die überwältigende Natur Afrikas – und im Kleinen in der Anlage eines mit Hingabe kultivierten Garten. Doch mit dem Menschen, einem Wesen zwischen beidem, führt beides ins Unglück …

    Das alles lässt sich mit interessanten Einblicken, guter Unterhaltung und auch ein bisschen Spannung zügig und reuelos lesen. Es ist ein ganz ordentlicher Ken Follett. Bloß mit einem auffallend anderen und sicher wichtigen Thema. Ob das aber des Literatur-Nobelpreises würdig ist?

    Die Freude am Schreiben merkt man Abdulrazak Gurnah an

    Der aber gilt ja dem ganzen nun wohl nach und nach (wieder-)veröffentlichten Werk des Autors – „für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten“, wie die Akademie im Oktober formulierte. Abdulrazak Gurnah sagte in seiner Nobelvorlesung bei der Übergabe-Zeremonie nun, Corona-bedingt nur in kleinem Kreis in London: „Schreiben ist immer ein Vergnügen gewesen“ – erinnernd an die Zeit, als er als Junge in der Schule Geschichten schreiben sollte. „Leicht verwunderlich“ sei diese jugendliche Freude am Schreiben immer noch da – auch nach Jahrzehnten. Das immerhin merkt man lesend.

    Abdulrazak Gurnah: Das verlorene Paradies. Übersetzt von Inge Leipold, Penguin, 336 S., 25 €.

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