War’s das? Michel Houellebecq hatte schon mal angekündigt, nie wieder öffentlich auftreten zu wollen, sich für Jahre in die irische Einöde zurückgezogen – um doch wieder aufzutauchen, nach Paris heimzukehren und für Wirbel zu sorgen. Jetzt aber, 28 Jahre nach dem Sensationsdebüt mit „Ausweitung der Kampfzone“ und sechs weiteren, stets ebenso gefeierten wie umstrittenen Romanen seines „neuen Realismus“, jetzt schreibt dieser Weltstarautor als letzten Satz im anhängenden Dank zum neuen Werk, dem heute erscheinenden „Vernichten“: „Ich bin glücklicherweise gerade zu einer positiven Erkenntnis gelangt; für mich ist es Zeit aufzuhören.“
Wirklich? Nicht nur ein neuerlicher Stromschlag, mit dem der (nach eigenen Angaben) 63-Jährige wieder mal die ganze Literaturwelt elektrisiert? Wie er sonst auch über die Literaturwelt hinaus zuverlässig mit seinem furios schonungslosen Schreiben getan hat, das sehr viele als Provokation empfunden haben, auch nicht eben wenige stellenweise als islamfeindlich, tendenziell reaktionär und sehr oft sexistisch? Jedenfalls wäre es die beste Gelegenheit für einen Abschied. Für ihn: Denn Michel Houellebecq wird kein glücklicheres Ende mehr für sich finden als das dieses Romans. Aber auch von ihm: Denn Lesenden verdeutlicht „Vernichten“ zuvor auch, wie schmerzlich es wird, wenn der seine Stärken verliert und, ja – im deutlich längsten Werk seiner Karriere sein sonst schneidendes Schreiben zum Schwafeln verkommt.
Houellebecqs "Vernichten": Hauptfigur Paul blickt verbittert auf die Welt
Worum es geht? Gute Frage. Im Zentrum steht jedenfalls Paul, der auf die 50 zugeht, als Vertrauter des Wirtschaftsministers auf ziemlich angenehme Weise ziemlich gut verdient, sein Leben aber als verpfuscht ansieht, unter anderem wegen dem unrettbar erkaltet scheinenden Verhältnis zu seiner Frau Prudence, mit der er schon seit zehn Jahren keinen Sex mehr hatte. Einer dieser Houellebecq-Typen eben, die in ihrer Verbitterung auch gallig auf die Welt um sich herum blicken und schonungslos über die Menschen darin urteilen. Über diesen Paul heißt es etwa: „Sollten die Terroristen vorhaben, die Welt, wie er sie kannte, zu vernichten, dann könnte er ihnen das nicht einmal wirklich zum Vorwurf machen.“
Was zudem zeigt: Es geht auch wieder (wie etwa in „Plattform“) um Terroranschläge. Die hier allerdings zunächst nur als perfekte digitale Inszenierung fingiert sind. Wir befinden uns schließlich im technisch weiter fortgeschrittenen Jahr 2027, zudem Wahljahr in Frankreich. Und nachdem Houellebecq in „Unterwerfung“ das Präsidentschaftsrennen 2022 als Vision eines Kotaus der Liberalen mit den Muslimbrüdern beschrieben hat, um die Rechten von der Macht fern zu halten, ist nun ein Moderator aus dem Unterhaltungsfernsehen der Einzige, der den Kandidaten des Rassemblement National aufhalten kann.
Ökofundamentalisten wüten gegen die Moderne
Die Terroristen sind dabei übrigens diesmal keine Islamisten, sondern ebenso gegen die Moderne wütende Ökofundamentalisten – der Islam spielt nur am Rande eine Rolle, wenn etwa in den Vorstädten Salafisten das Straßenbild prägen und Moscheen bauen. Die Gesellschaft jedenfalls ist trotz eines kleinen Wirtschaftswunders ausgehöhlt, die Mittelschicht (wie etwa in „Serotonin“) zerstört. Aber auch die Religion spielt ihre Rolle. Während sich innerlich leere Großstadt-Wohlhabende wie Pauls vegane Frau etwa dem Hexenkult der Wicca zur Selbstfindung widmen, darbt seine Schwester Cécile als eine gläubige Katholikin auf dem ausgezehrten Land. Und wirkt doch reicher, weil in einer Ordnung verwurzelt samt ihrem Mann Hervé, der Teil der zudem Rechts-Identitären war.
Die sind inzwischen wiederum auch als Anti-Euthanasiebewegung aktiv und befreien zum Sterben abgeschobene Menschen aus heruntergewirtschafteten Krankenhäusern. Und in einem solchen Haus arbeitet die aus dem Benin eingewanderte Maryse, die nicht fassen kann, wie in diesem wohlhabenden Land mit alten Menschen umgegangen wird – und die mit ihren schlichten, klaren Erwartungen an das Leben und das Glück wie eine Offenbarung für Pauls Bruder Aurélien würde. Wäre da nicht noch dessen Ehefrau, genannt meist nur „die Schlampe“: eine Journalistin, die zuletzt vorzugsweise Transgender-Aktivisten porträtiert hat und quasi überemanzipiert ihren Mann beherrscht, aussaugt, und ihn zudem gedemütigt hat. Einen Sohn nämlich hat sie sich per Samenspende und Leihmutter angeschafft, einen dunkelhäutigen auch noch. Und so weiter. Soll man noch verraten, dass, als Paul aus Zweifel an seiner Potenz zu einem Escort-Girl geht, sich dieses während des Oralverkehrs dann als die Tochter der intakten, konservativen Ehe seiner Schwester herausstellt?
In Houellebecqs "Vernichten" gibt es auch Zeichnungen des Autors
Das jedenfalls sind einige der Fäden, die Houellebecq (von dem erstmals auch eigene, nun ja, Zeichnungen im Buch sind) aufnimmt. Und die er durch die Sprech- und Denkpuppe Paul (dessen symbolisch aufgeladene Träume auch regelmäßig eingestreut sind) zum Räsonnieren über westliche Dekadenz, den Verfall der Kultur, den Verlust der Liebe wie der Libido verfolgt. Gespickt mit Referenzen zu Philosophie- und Literaturgeschichte, die kaum zur Figur Paul, aber sehr zu Houellebecq selber passen. Das liest sich – und man muss hier lange Textstellen zitieren, um zu zeigen, was mit dem Schreiben dieses Autors geschehen ist – dann schon mal so: „Er hatte immer die Anekdote über Friedrich II. gemocht, der verlangt habe, neben seinen Hunden begraben zu werden, um nicht inmitten von Menschen zu ruhen, dieser ‚verdorbenen Rasse‘. Die menschliche Welt schien ihm aus selbstsüchtigen kleinen, nicht miteinander verbundenen Kackwürsten zu bestehen, manchmal kamen die Würste in Bewegung und kopulierten nach ihrer Art, jede auf ihre Weise, daraus folgte die Existenz neuer, ganz kleiner Kackwürste. ( …) Seit einigen Jahren allerdings kopulierten die Kackwürste in geringerer Anzahl, sie schienen gelernt zu haben, einander zurückzuweisen, sie nahmen den Gestank der anderen wahr und schoben einander angewidert beiseite, ein Aussterben der menschlichen Art erschien mittelfristig vorstellbar.“ Soll das lustig sein?
Verknüpft sind all die Fäden und Personen durch einen Schlaganfall, den Pauls Vater, ein Ex-Geheimagent, erleidet. Und als er zu ihm ins Krankenhaus kommt, schreibt Houellebecq: „Das Zimmer selbst war recht groß, etwa sechs mal vier Meter, und die Wände waren in einem Kükengelb gestrichen, also einem recht hellen und warmen Gelb. Paul erinnerte sich nicht mehr, wann er das letzte Mal ein echtes Küken gesehen hatte, wahrscheinlich hatte er sogar noch nie eines gesehen, im wahren Leben hat man selten Gelegenheit, dergleichen zu sehen, aber wie dem auch sei, es war ein angenehmer Farbton, und es war ein angenehmes Zimmer, an den Wänden befestigte Regale warteten darauf, gefüllt zu werden.“ Gefasel!
Als Paul wieder herauskommt, steht da: „Es war Feierabend, der Verkehr auf dem Quai Claude Bernard war noch dichter geworden und sogar völlig zum Erliegen gekommen. Die Ampel direkt gegenüber dem Krankenhaus schaltete wieder auf Rot; ein erstes Hupen ertönte, wie ein einsames Röhren, dann erhob sich eine gewaltige Woge von Hupgeräuschen, die die verpestete Luft erfüllte. All diese Menschen hatten sicher unterschiedliche Sorgen, private oder berufliche Kümmernisse; der Gedanke lag ihnen fern, dass der Tod dort am Quai war und auf sie wartete. Im Krankenhaus bereiteten sich die Angehörigen auf den Heimweg vor; auch sie hatten natürlich ein Privat- und ein Berufsleben. Wären sie noch einige Minuten geblieben, hätten sie ihn gesehen, den Tod. Er hielt sich am Eingang auf, war aber jederzeit bereit, in die oberen Stockwerke hochzusteigen; der Tod war eine Nutte, aber eine eher gutbürgerliche Nutte, schick und sexy. Trotzdem nahm sie jeden Dahinscheidenden, Sterbende aus dem einfachen Volk konnten ihre Dienste ebenso in Anspruch nehmen wie Reiche, eine Hure sucht sich ihre Freier nicht aus. Krankenhäuser sollten nicht in der Stadt liegen, dachte Paul, die Stimmung ist zu hektisch, zu gesättigt mit Projekten und Wünschen, Städte sind kein guter Ort zum Sterben.“ Ist das gut, klug? Ist das Houellebecq?
Zum Thema findet Michel Houellebecq erst auf den letzten hundert Seiten
Immerhin findet das Buch über solche Stellen zu seinem Thema, das erst auf den letzten hundert der über 600 Seiten entfaltet wird – wenn Houellebecq alle anderen Fäden fallen lässt. Es ist, was sich wohl immer schon dahinter verbarg, wenn sich die Bitterkeit in Wut entlud: Angst. Und hier offenbart sich die essenziellste: die Angst vor dem Tod, einem einsamen Tod. Und der Autor stellt sich ihr so mit dem Ende seines womöglich letzten Romans nach all dem nun fast programmatisch erscheinend zum Gefasel geworden Nachdenken über das Leben in der Gegenwart. Für einen ja immer schon zwischen Rationalitäts- und Religionskritik mäandernden Houellebecq wird daraus ein Trost, der so bislang nicht möglich schien.
Auch wenn man sich stilistisch noch mehr fragt, wer da eigentlich schreibt: „Der riesige Wald, der sich vor ihnen ausdehnte, lag nicht einfach nur unbewegt da, eine leichte Brise wiegte die Blätter hin und her, und diese sehr sanfte Bewegung war noch beruhigender, als es die vollkommene Regungslosigkeit gewesen wäre, ein ruhiger Atem schien den Wald mit Leben zu füllen, ein Atem, der unendlich ruhiger war als jedes tierische Atmen, er schien jenseits aller Aufregung und auch aller Gefühle zu sein, unterschied sich aber dennoch vom reinen Mineral, war zerbrechlicher und weicher, ein möglicher Vermittler zwischen der Materie und den Menschen, er war die Essenz des Lebens, des friedlichen Lebens, das weder Kämpfe noch Schmerzen kannte. Er beschwor nicht die Ewigkeit herauf, darum ging es nicht, doch wenn man sich in seiner Betrachtung verlor, schien der Tod an Bedeutung zu verlieren.“
Schluss mit Realismus also – und Amen. Es ist Houellebecqs schlechtester Roman. Aber eben auch ein wohl einzig mögliches Versöhnen dieses Autors mit dem Menschsein, im Eingeständnis der brutalen Vergeblichkeit seiner Existenz, nachdem er Gott und die Liebe getötet hat. Seine letzte Würde liegt im Verstummen. Ein bestürzendes Happy End. Ja, Zeit aufzuhören.
Zum Buch: Michel Houellebecq: Vernichten Übs. Stephan Kleiner und Bernd Wilczek, DuMont, 624 S., 28 Euro