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Literatur: "Serge" von Yasmina Reza: Mit falschen Wimpern nach Auschwitz

Literatur

"Serge" von Yasmina Reza: Mit falschen Wimpern nach Auschwitz

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    Die französische Schriftstellerin Yasmina Reza wagt sich an ein heikles Thema.
    Die französische Schriftstellerin Yasmina Reza wagt sich an ein heikles Thema. Foto: Peer Grimm, dpa

    „Unser erster Impuls führte uns dorthin, wo es uns ein bisschen leerer erschien. So kamen wir direkt in die Gaskammer.“ Diese zwei Sätze aus dem Buch vorweg, und dann gleich noch drei, nur damit man schon einmal weiß, worauf man sich mit der Lektüre des neuen Romans von Yasmina Reza einlässt. Auf eine Tragikomödie, melancholisch, traurig, zugleich aber nahezu irrsinnig witzig, in deren Mittelpunkt ein Familienausflug nach Auschwitz-Birkenau steht und am Gedenkort zwischen Tochter und Vater auch mal ein Wortwechsel wie dieser fallen:

    „Das ist der schlimmste Ort der Welt, Papa!“– „Was soll das sein, die Judenrampe. Ihr geht mir auf den Sack mit eurer Judenrampe.“

    Die Vergangenheit wird im Hause Popper nicht weiter thematisiert

    Yasmina Reza erzählt in „Serge“ von einer geschichtsvergessenen jüdisch-französischen Familie, die mit der Vergangenheit ähnlich umgeht, wie Rezas eigene weitverzweigte jüdische Familie es getan hat: Man beschwert sich wenn möglich nicht damit. Dass ein Großteil der ungarischen Verwandtschaft während des Holocaust ermordet worden ist, wird im Hause Popper also nicht weiter thematisiert. Der Vater zwar hegt eine Leidenschaft für den Staat Israel und spendet auch an die Erinnerungsstätte Yad Vashem, die Mutter aber stellt nach dem Tod ihres Mannes auch diese Zahlung ein. Von den ermordeten Verwandten wird nicht gesprochen und die Kinder fragen ja auch nicht. „Meine Mutter hatte einen wenig in unsere Zeit passenden Reflex: Um nichts in der Welt wollte sie Opfer sein“, sagt der Ich-Erzähler Jean und weiß das wiederum durchaus zu schätzen: „Man kann gar nicht genug die Leichtigkeit rühmen, die das Fehlen eines Vermächtnisses uns beschert.“

    Der nächste taumelnde Schritt der Identitätssuche

    Serge, Jean und Nana, das sind die drei Popper-Geschwister, auseinandergedriftet über die Jahre, die sich nun nach dem Tod der Mutter auf die Reise nach Auschwitz machen. Jean, der Mittlere, bindungsunfähig, aber empathisch, arbeitet als Experte für Materialleitfähigkeit, zahlt den Trip als der Erfolgreichste. Nana, die Jüngste, sozial engagiert, über deren spanischen Ehemann die Brüder unentwegt witzeln, organisiert. Serge, windiger Unternehmer, verlassener Filou, bockt. Soweit zur Rollenverteilung. Dass die drei zusammen unterwegs sind, liegt ohnehin nur an Serges Tochter Joséphine, planlos, was sie mit dem Leben anfangen soll. Der nächste taumelnde Schritt auf der Identitätssuche führt nun von der Augenbrauenakademie nach Auschwitz, Vater, Onkel, Tante im Schlepptau.

    „Der zentrale Gedanke dieser Erkundungsreise – noch kann ich ihn mir nur schwer zu eigen machen – lautete, um ihn mit der typischen Betroffenheit unserer Zeit zu formulieren: Wir wollten das Grab unserer ungarischen Verwandten besuchen. Menschen, die wir nie kennengelernt, von denen wir bislang nichts gehört hatten und deren Unglück das Leben meiner Mutter anscheinend nicht weiter erschüttert hatte.“

    Man muss über den Menschen lachen - auch an einem Ort des Schreckens

    Was dann folgt, ist ganz fürchterlich komisch. Und ganz großartig zu lesen, weil die als Theaterautorin berühmt gewordene Yasmina Reza das ja so grandios kann: Den ganzen Wahnsinn des Menschen, seine Bedürftigkeit, seine Jämmerlichkeit, in kurze Dialoge packen – zielgenau ihre feinen Pointen zu setzen. Man muss über den Mensch lachen – auch wenn er sich gerade durch einen Ort des Schreckens schiebt. Während sie an Block 242 vorbeilaufen, fragt Onkel Jean die Nichte: „Sag mal, falsche Wimpern, musste das sein, heute?“ „Die sind permanent“, antwortete sie.

    Wie soll an die Schrecken des Holocaust künftig erinnert werden? Welche Bedeutung hat eine Stätte wie Auschwitz noch für die Nachgeborenen, die sich im Roman als buntgekleidete Touristenherde durch das Lager drängeln, Erinnerungsfotos schießen, sich am Entsetzen berauschen wie Nichte und Tante – „grauenhaft“, um dann abends in der Touristentaverne in Krakau bei lautstarker Musik auf pappsüßen Reiskuchen zu warten?

    „Für mich besteht die wahre Erinnerung in der Gefühlserinnerung, der subjektiven Erinnerung, nicht in einer pädagogischen. Sondern in der Erinnerung dessen, was du erlebt hast“, hat die Schriftstellerin im Interview mit der Zeit erklärt: „Und du warst nicht dabei, also kannst du dich nicht erinnern. Es müsste stattdessen heißen: Mach es dir klar, und denke nach. Aber dafür genügen Schilder oder ein Ort nicht.“ Auschwitz sei ein Ort, der vor allem auch der Beruhigung dient – dass die eigene Generation, sprich man selbst, zu solchen Gräueln nicht imstande wäre. Ihren Ich-Erzähler Jean lässt sie denken: „Ein Wissen, das nicht zutiefst mit einem selbst verbunden ist, bleibt folgenlos. Von der Erinnerung ist nichts zu erwarten. Dieser Fetischismus der Erinnerung ist bloßer Schein.“

    "Serge" von Yasmina Reza ist gedankenschwer, aber auch von großer Leichtigkeit

    Die Reise nach Auschwitz steht zwar im Zentrum, aber das Geflecht des so melancholischen Romans sind die Beziehungsstränge zwischen den Geschwistern und ihren Angehörigen: Kinder, Ziehkinder, ein alter im Sterben liegender Cousin. Ein Geschwisterporträt, auch das also ist dieser Roman, in dem Reza das Bild dreier Menschen zwischen 50 und 60 zeichnet, die den Schwung verloren haben: Dicker geworden sind, herumstraucheln, mit kleinen und größeren Katastrophen jonglieren und mit Zeichen der Endlichkeit konfrontiert werden. Auf dem Nachhauseweg wartet auf Jean der schwarze Rabe. Serge klagt nach dem Arztbesuch: „Ich war unbesiegbar. Jetzt ist alles hinüber“. Dass der Roman seinen Namen trägt, ist aus Sicht des Ich-Erzählers nur stimmig: Der größere Bruder geht voran, der kleinere Bruder lugt hinter seinem Rücken hervor. Die Welt aber, auf die beide blicken, verstehen sie so wenig wie als Kinder – aber alles halt irgendwie grauer.

    Etwas mehr als 200 Seiten – gedankenschwer, aber wie immer bei Reza auch von großer Leichtigkeit – das ist es, worauf man sich mit der Lektüre einlässt. Ein letztes Zitat aus dem Buch, die Geschwister sind bei einer Totenwache. Die angeheiratete, schon leicht angetrunkene Verwandtschaft fragt nach: „Ihr habt noch gar nichts von Auschwitz erzählt! … Wie war’s, Kinder? Grässlich, oder?“

    Das Buch: Yasmina Reza: Serge. A. d. Französischen von Frank Heribert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser-Verlag, 205 Seiten, 22 Euro.

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