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Literatur: Indochinakrieg: Éric Vuillard beschreibt die französische Schande in Vietnam

Literatur

Indochinakrieg: Éric Vuillard beschreibt die französische Schande in Vietnam

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    Träger des Prix Goncourt: der Schriftsteller Eric Vuillard. Nun leistet er wieder Erinnerungsarbeit, schreibt über koloniales Unrecht.
    Träger des Prix Goncourt: der Schriftsteller Eric Vuillard. Nun leistet er wieder Erinnerungsarbeit, schreibt über koloniales Unrecht. Foto: afp

    Nach der Katastrophe, nach dieser unwahrscheinlichen Schmach für die USA mussten vier Jahre ins Land ziehen, bis sich Hollywood den Stoff griff: „Ich liebe den Geruch von Napalm am Morgen“, brummt Lieutenant Colonel Kilgorie im Film „Apocalypse Now“, während die Geschosse in den Schlamm hageln.

    Und der Wahnsinn der Lage vibriert in seiner Stimme. Vietnamkrieg: Zwei Jahrzehnte, 1955 bis 1975, dauerte diese blutige Dauerschlacht, um mit dem unehrenhaften Abgang der Kriegspartei und Weltmacht zu enden. Durch die US-Brille, durch Filme wie „Platoon“ und „Full Metal Jacket“ – so hat man sich auch in Deutschland ein Bild von diesem Krieg gemacht. Dabei geht oft unter, dass es vorweg eine Ouvertüre zu dieser Katastrophe gegeben hatte – nämlich eine französische.

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    Foto: Montage AZ

    Éric Vuillard wirft einen französischen Blick auf Vietnam

    Als man den Norden Vietnams noch Tonkin nannte, da herrschte Frankreich über den Landstrich in Indochina, Südostasien. Ein Regime nach Kolonialherrenart, unter dem Deckmäntelchen einer „zivilisatorischen Mission“. Bis die kommunistischen Truppen der Viet Min angriffen – und die Franzosen noch aus dem letzten Winkel ihres Landes verjagten. Dieses Kapitel rollt jetzt Éric Vuillard auf, im Roman „Ein ehrenhafter Abgang“ – und leistet auf 148 Seiten Erinnerungsarbeit mit mächtig Wut und mächtigem Stil. Dieser französische Blick auf Vietnam fasziniert. Auch durch die deutsche Brille.

    Vuillard will das Unrecht greifbar machen und blendet zurück in das Jahr 1923. Zwei Herren aus Frankreich, Delamarre und Tholance, fahren durch einen Plantagen-Forst in Tonkin, um dort als „Gewerbeaufsicht“ nach dem Rechten zu sehen. Aber was heißt Recht? Hier melken Arbeiter Latex aus den Bäumen, im Sklavendienst für französischen Wohlstand: „Und jede Nacht lässt jeder Mann ungefähr eintausendachthundert Bäume zur Ader, eintausendachthundertmal legt der Mann sein Messer an die Rinde, eintausendachthundertmal zieht er seine Kerbe.“ Wie sie sich plagen, damit Michelin nicht der Saft ausgeht, darin liegt ein Horror.

    Vuillard beschreibt den Horro der Kolonialherrschaft in Vietnam

    Aber das ist nur der Anfang. An der Straße fängt Delamarre Zwangsarbeiter auf der Flucht ein, aneinander gekettet mit scharfem Draht. Vor dem Haupthaus ragt ein „Justizbalken“ empor, an den sie die „Deserteure“ ketten. Hinter einer verriegelten Tür hört es Delamarre winseln und bittet den Plantagen-Chef Triaire, sie zu öffnen. Nur: Nanu? Wo ist der Schlüssel hin? Aber Delamarre lässt sich nicht veräppeln. „Ach, schon ist sie auf, man hatte auf wundersame Weise doch noch die Schlüssel gefunden, wie zerstreut er nur ist, dieser Triaire!“ Hinter der Türe windet sich ein Arbeitssklave. Halbtot, völlig nackt. 

    Aus diesen Bildern schöpft Vuillard heilige Wut. Sein Biss schnappt am schärfsten zu, wenn er in die 50er Jahre vorspult, als die koloniale Macht schon bröckelt. Vuillard bohrt sich psychologisch tief in die Gedankenwelt der Kolonialherren. Bräsige Typen wie Édouard Herriot aus Lyon, Präsident der Nationalversammlung, offenbar restlos uninteressiert an den jüngsten Schlachten in Tonkin, aber dick im Politgeschäft seit Jahrzehnten. Vuillard fragt, „wie viel Aas es braucht, wie viel hingerichtete Kollegen, abgewürgte Karrieren, damit ein einziger dicker Kerl die Stufen zum Rathaus in

    In "Ein ehrenhafter Abgang" blickt Vuillard nach Südostasien

    So führt Vuillard mit Eleganz von einer Schlüsselfigur zur nächsten: Feldherren, Minister, Abgeordnete. Dabei seziert er auch ihre Sprache, die Art, wie sie über den Krieg reden: Es gehe ja nicht darum, die Macht über Tonkin zu behalten – lieber spricht man vom Kampf für die „Unabhängigkeit“ einer Nation der Union Française. Von „unseren Truppen“ ist die Rede, in denen vor allem Einheimische aus der Region Indochina unter Zwang kämpften.

    Vuillard gelingt ein Spagat zwischen Geschichtsbuch und Kopfkino: Mit Genuss und Spott rekonstruiert er die Stammbäume der Beletage, von Ast zu Zweiglein, von der politischen Elite zur Bankiers-Chefetage – es sind Clans und Dynastien. Aber Fakten schwappen dabei über in die Fantasie, in die Spekulation der Gedanken. Waren sie nicht „vielleicht doch alle Monster, so vornehm, wohlerzogen und kultiviert sie auch sein mochten, Monster in eleganten Überziehern, in strengen Gabardinemänteln, Affen in Trench-coats?“, so meldet sich das Gewissen bei Emile Minost, Chef der Bank von Indochina.

    Éric Vuillard beschreibt die schmutzige Schlacht von Điện Biên Phủ

    Aber da haben sich die Viêt Min schon gerüstet für die finale Schlacht. Den Dreck der Schützengräben und die Peinlichkeit der Flucht der Franzosen schildert Vuillard in schmutzigen Farben. „Ein ehrenhafter Abgang“, das wäre die Option gewesen, sich aus dem Land noch mit Diplomatie zurückzuziehen. Aber nein. Und die Bilanz fällt tödlich aus: „Auf vietnamesischer Seite brachte der Krieg mindestens drei Millionen und sechshunderttausend Tote.“

    Dieses Buch ist ein Kampf um Erinnerung. Schon in der Sprache legt sich die Stirn in Zornesfalten, und doch verliert Vuillard an keiner Stelle die Contenance. Sein Blick fällt durch die Monokel der französischen Machthaber, die Sicht der Vietnamesen eignet er sich nicht an. Und diese Perspektive ist am Ende wohl konsequent, wenn ein Autor die eigene Landesgeschichte so schonungslos aufrollt. 

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