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Literatur: Johann Scheerer erzählt in "Unheimlich nah" vom Leben unter Dauerbeobachtung

Literatur

Johann Scheerer erzählt in "Unheimlich nah" vom Leben unter Dauerbeobachtung

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    Aufwachsen unter Dauerbeobachtung: Johann Scheerer
    Aufwachsen unter Dauerbeobachtung: Johann Scheerer Foto: Charisius, dpa

    Wovon träumt man mit 13 Jahren? Wie soll das Leben da aussehen? Auf jeden Fall anders als in den Jahren zuvor. Raus aus dem Kuscheltier-besetzen Kinderzimmer, raus aus der elterlichen Dauerbeobachtung, rein in die unbekannte Freiheit. Zumindest ein bisschen. Johann Scheerer, 13 Jahre, ist mit seinen Eltern in Amerika, sie sind dort für einige Wochen in die Anonymität geflüchtet, als ihm seine Mutter während einer Taxifahrt in Manhattan eröffnet: „Wir werden erst mal für einige Zeit Sicherheitsleute haben müssen.“ Der Junge überlegt, wie das funktionieren soll, ob die wohl überall mitgehen, fragt dann: „Was haben die denn an.“ Die Mutter zuckt mit den Schultern. Sie glaube, „ganz normal“.

    Ganz normal. Sich nicht abheben. Nicht auffallen. Davon träumen Jugendliche vor allem dann, wenn eine Besonderheit an ihnen klebt, die es schwer macht, einfach mitzuschwimmen mit all den anderen im Schwarm Richtung offenes Meer. „Spätabends, wenn ich nach Hause gefahren wurde, dachte ich daran, wie sehr ich mich danach sehnte, dass die Leute in meiner Schule aus keinem anderen Grund mir hinterherschauten und über mich tuschelten als dem, dass ich in einer Band spielte“, schreibt Johann Scheerer in seinem eben erschienenen Buch „Unheimlich nah“.

    Johann Scheerer erzählt von seiner Kindheit

    Ausgewiesen ist das Buch, sein zweites, als Roman, aber wie das erste klebt es ganz nah an der Realität. Es ist ja das alles passiert, was Johann Scheerer, mittlerweile 38, beschreibt. Ihm. Den Eltern. Die Wochen in Amerika. Die Rückkehr ins zur Sicherheitsfestung umgebauten Haus in Hamburg-Blankenese. Personenschützer rund um die Uhr, von denen manche, wie Johann bei der Heimkehr aus den USA dann feststellt, aussehen wie Zivilpolizisten, manche eher wie eine Freizeitversion von James Bond.

    Scheerers Vater ist der Sozialwissenschaftler, Mäzen und Millionenerbe Jan Philipp Reemtsma. 1996 wurde er aus seinem Haus in Hamburg entführt und kam erst nach 33 Tagen gegen eine Zahlung von 30 Millionen Mark wieder frei. Es ist viel geschrieben worden über dieses Verbrechen. Von Jan Philipp Reemtsma selbst in seinem Buch „Im Keller“ und natürlich von Journalisten, die diese Geschichte immer und immer wieder erzählt haben. Vor zwei Jahren dann schrieb Johann Scheerer mit „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ seine Version des über einen Monat andauernden Ausnahmezustands. Wobei ein Monat natürlich nicht stimmt. Der Ausnahmezustand, so liest man nun im Nachfolgeband, ändert sich danach nur – aber bleibt.

    Ganz normal – das bedeutet für Johann Scheerer als Teenager: Die Personenschützer fahren den Jungen morgens zur Schule, weit vor Unterrichtsbeginn, weil er von Mitschülern nicht beobachtet werden möchte, wenn er aus dem Auto steigt. Sie holen ihn mittags wieder ab. Wenn er mit dem Fahrrad unterwegs ist, folgen sie ihm im Auto mit gewissem Abstand. Wenn er seine erste Liebe zur Bahn begleitet auch. Verlässt er das Haus, muss er den Personenschützern eine kurze Nachricht schicken. Drei Minuten Zeit, darum wird er irgendwann gebeten, möge er ihnen doch als Puffer geben.

    Völlig skurril wird die Situation, wenn es um den täglichen Spaziergang mit den Hunden geht. Der Teenager fühlt sich überflüssig, die Sicherheitsleute könnten ja schließlich bei ihren Runden die Hunde einfach mitnehmen. „Ich hatte das Gefühl, dass ich phasenweise aus meinem eigenen Leben abgeschafft worden war. Alles war auf einmal so durchorganisiert, es schien gar nicht mehr nötig zu sein, dass ich noch mitlebte.“ Wobei als besondere Härte hinzukommt, dass sich der Junge im Grunde mit niemanden über dieses von Sicherheitsnetzen umfangene Leben austauschen kann. Er kennt ja niemanden, mit Ausnahme seiner Eltern natürlich, dem es ähnlich ergeht.

    Beim Spaziergang mit den Hunden fühlt sich Scherer überflüssig

    Über Eltern kann man sich bei Freunden gemeinsam aufregen, über Personenschützer, wie die nerven können, und was das eigentlich für eine Belastung bedeutet, dann eher nicht ... Als die Familie bei der Ankunft in Portugal, wo man die Sommerferien verbringen will, von Polizeiwagen mit leuchtendem Blaulicht und Sirenen eskortiert wird, schießt ihm der Gedanke durch den Kopf: „Wie übermächtig musste die Gefahr sein, wenn schon der Schutz so beklemmend war?“

    Der Teenager versucht jedenfalls, so normal wie möglich zu leben, spricht am liebsten gar nicht über den „Elefanten im Raum“. Was wiederum zu hochkomischen Situationen führt, die Scheerer schnörkellos im wunderbar trockenen Ton beschreibt. Der Fahrlehrer wundert sich über dieses unglaubliche Pech des Schülers, dass beim Rückwärtseinparken oft einfach ein anderes Auto vorwärts in die Lücke fährt. Der Junge klärt dann auf: Security, die schnell mal den Weg frei macht ... . Zumindest die Freunde in der Band sind irgendwann eingeweiht, die Sicherheitsleute, genannt Fuzzis oder die Schreckensgestalten, übernehmen auch mal den Transport der Instrumente. Bei den Konzerten der Schülerband ist dann aber der Nightliner, in dem auch die Personenschützer übernachten, gelegentlich größer als der Klub ...

    "Zivilbullenlook" kombiniert mit Punkklamotten

    Was dieses Buch ansatzweise auch ist, was es hätte sein können, ein Coming-of-age-Roman über einen jungen Künstler. Mit der Band „Score“ nahm Johann Scheerer mit 17 sein erstes Album auf und ging auf Deutschlandtour. In seinem Hamburger Tonstudio schneien auch die Großen der Branche rein: Pete Doherty zum Beispiel oder Omar Rodriguez-López. Aber Scheerer bleibt bei dem von ihm gewählten Blickwinkel: eine Jugend unter Dauerbeobachtung. Das gleichwohl liest sich sehr berührend. Aus den bunten Kinderklamotten wächst er hinaus, übernimmt von den Personenschützern dann so etwas wie einen „Zivilbullenlook“, aber kombiniert mit wild gefärbtem Haar und schrägen Punkklamotten. Die werden von der Mutter auch mal gebügelt, wenn er nicht aufpasst. „Alles in allem war ich zu einem bizarren Zwitterwesen aus gänzlich konträren und politische Strömungen geworden.“

    Ganz normal – so wie davor – kann nichts mehr werden. Auch das Verhältnis zum Vater nicht, den Scheerer mit nüchterner Sanftheit beschreibt. Ein Mann, der nicht ganz zurückgekehrt ist ... Seine Mutter habe sich bei der Entführung dagegen entschieden, das Lösegeld zu markieren, sagt Jan Philipp Reemtsma am Ende des Buches zu seinem Sohn am Telefon. Aber obwohl es diese Markierung nicht gab, auf die Familie habe sie irgendwie doch abgefärbt: „Wir gehen durch die Welt und sind irgendwie markiert.“

    Johann Scheerer: Unheimlich nah. Piper, 331 Seiten, 22 Euro. Hier geht es zur Leseprobe.

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